Thema: Was ist nach Michel ein Gefälligkeitsstempel ?
0nickyet Am: 01.07.2015 12:22:44 Gelesen: 19659# 35@  
Danke für diese außerordentlich lehrreiche Diskussion bisher.

Das Hauptproblem bei dem Versuch, eine einheitliche Definition zu schaffen, scheinen mir völlig disparate Perspektiven:

1) Es gibt den fiskalischen Blick der Post auf Postwertzeichen.
2) Es gibt den administrativen Blick auf Stempel als hoheitliches Instrument.
3) Es gibt mehrere philatelistische Sichtweisen auf abgestempelte Postwertzeichen.
4) Es gibt Marktbewertungen hinsichtlich des Begriffs der "Echtheit".

ad 1) Die Nutzung des Poststempels auf Briefmarken geht auf die Absicht der britischen Postverwaltung zurück, die mehrfache Verwendung von Postwertzeichen zu verhindern. In den ersten Jahren richteten sich Änderungen vor allem gegen das betrügerische Entfernen von Stempeln. Unter diesem Aspekt betrachtet ist der Post eigentlich recht egal, wie eine Marke entwertet wird. Aus den Ausführungen zu SBZ und DDR wird allerdings klar, dass sich diese Gleichgültigkeit ändert, wenn Knappheit an Kapital besteht - dann kommt nämlich die unnötige Entwertung einer Briefmarke dem Verbrennen eines Geldscheins nahe.

ad 2) Die Geschichte der Poststempel ist etwa 450 Jahre älter als die der Briefmarke. Das weiß jeder hier - aber es bedeutet, dass die Entwicklung von Stempeln völlig unabhängig von Postwertzeichen zu betrachten ist, und ihre Funktion wechselte im Laufe der Zeit. Am Beginn stand offenkundig nicht die Entwertung, sondern die Zeitmessung für Boten. In vordemokratischen Zeiten wurde alsbald der Weg einer Sendung bedeutsam, deshalb trat der Ort als wichtige Information hinzu (insbesondere für Grenzübertritte). Auffällig ist, dass diese beiden Kriterien nach 1840, als Stempel und Briefmarke erstmals aufeinandertrafen, für die Postverwaltungen offenkundig unwichtig waren, es zählte eben zuerst die Entwertung. Erst als die Effizienz des Postwesens gesteigert und die Funktion des Beförderungsweges relevant wurde, bekamen Zeit und Ort wieder eine Bedeutung, allerdings aus völlig anderen Gründen als in der Vorphilatelie.

Im Rechtsstaat kommt noch ein Motiv hinzu: der Absender möchte die fristgerechte Absendung dokumentieren, und hat die Post dabei gar nicht im Sinn.

ad 3) Schon ab dem 19.Jahrhundert muss mit philatelistischen Einflüssen auf das Verhältnis von Stempel und Brief(marke) gerechnet werden. Das nun auftretende Problem ist jedoch, dass unterschiedliche Motivationen ins Spiel kommen:

3 a) Manche interessieren sich für den Beleg von Bedarfspost.
3 b) Recht ähnlich im Interesse, aber nicht immer übereinstimmend ist die Suche nach dem historischen Beleg, denn hier ist die Postbeförderug zweitrangig.
3 c) Andere verfolgen ästhetische Gründe hinsichtlich gebrauchter Marken, und die Ansicht über optimale Platzierung von Stempeln unterliegt der Mode.
3 d) Recht bald schon kommen Sonder- und Werbestempel auf, die ein Postwertzeichen über das Motiv hinaus mit symbolischem Wert aufladen.
Weitere Motivationen sind denkbar.

ad 4) Alle aus 1-3 resultierenden Konflikte würden vermutlich mit Gelassenheit zur Kenntnis genommen, kämen nicht irgendwann Preise ins Spiel. Die Lösung der Ursprungsfrage, wie MICHEL den Begriff "Gefälligkeitsstempel" einschätzt, hängt an der Vermutung, wofür Käufer mehr oder weniger Geld zu zahlen bereit sind. Diese Frage kann jedoch über den Weg einer Definition nicht geklärt werden. Einige in der Diskussion genannten Beispiele machen nämlich deutlich, dass Praktiken in manchen Fällen akzeptabel sind - und in einem höheren Preis resultieren -, die in der gleichen Art zu einer anderen Zeit jedoch inakzeptabel sind - und daher mit Abwertung gestraft werden. Verschärfend kommt hinzu, das häufig nach der Motivation einer Abstempelung gefragt wird, was sich in den meisten Fällen aber bestenfalls vermuten lässt.

Die erste Schlussfolgerung daraus ist, dass die Philatelie mit Definition arbeitet (und arbeiten muss), die zwei Perspektiven berücksichtigt: Erstens die Freimachung von Postsendungen, und zweitens die autorisierte und legale Verwendung von Stempeln. Aus der Diskussion wurde klar, dass diese beiden Aktionen nicht immer übereinstimmen.

Die zweite Schlussfolgerung bezieht sich auf die Bewertung von Abstempelungen durch Prüfer und Kataloge, denn diese wiederum richtet sich nicht zwingend auf die beiden philatelistischen Kriterien. Die Gefälligkeit bezieht sich auf legale Verwendung, die Bedarfsgerechtheit auf historische Akkuratesse, die Falschheit auf die absichtliche Täuschung hinsichtlich dieser beiden - aber was als "echt" geprüft und verkauft wird, ist von alledem manchmal unabhängig. Dem Sammler bleibt nur, sich im Zweifelsfall auf den Philaseiten zu erkundigen.
 
Quelle: www.philaseiten.de
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