Thema: Motive für Vereinsmitgliedschaften
WPhV Stuttgart Am: 14.04.2016 16:05:19 Gelesen: 15655# 31@  
@ Briefmarkentor [#41]

Erstaunt bin ich, dass gerade aus der Ecke der größten Verfechter der organisierten Philatelie lautes Schweigen zu vernehmen ist.

Hallo Marko,

damit scheinst Du wohl auch mich zu meinen. Ich wollte eigentlich hier nichts mehr schreiben, weil hier gute Beiträge in anderen wichtigen Threads unauffindbar in's Nirvana verschoben werden, aber gut, auf die Schnelle meine Antwort:

In meiner Kindheit und Jugend war ich in vielen Vereinen, ob Schwimm-, Fußball-, Schach-, Tischtennis-, Handball-, usw.- Verein, aber nirgends habe ich es länger als 1-2 Jahre ausgehalten. Meist deswegen, weil für mich auf Dauer entweder dort die Menschen zu doof wurden (Stichwort Trainersöhnchen) oder der Reiz des Produkts (z.B. Schach ist Schach und das war's dann) verloren ging.

Anfang der 1990er Jahre wurde mir auf der Messe Sindelfingen (ich meine auf dem LV Südwest-Stand) eine Liste mit Ortsvereinen in Stuttgart in die Hand gedrückt und der Zufall wollte es, dass der WPhV sich nur rund 200 m Luftlinie von meiner Wohnung traf und so bin ich mal da reingestolpert:

Der WPhV war damals eigentlich das 100%ige Klischee eines heruntergekommenen Briefmarkenvereins, vier-fünf alte Herrn (Ü70), kaum Briefmarken auf dem Tisch, dafür aber interessante zeitgeschichtliche und philatelistische Gespräche (z.B. Rommel-Feldzug in Afrika, die Feinheiten von Alt-Rumänien-/Moldau-Briefen) und zum nächsten Termin wurden dann die philatelistischen Schätze mitgebracht, von denen beim letzten Mal die Rede war. Damals gab es noch Vereinsauktionen und ich als "Junior" wurde gehegt und gepflegt und bekam neben Beratung usw. auch günstig tolles philatelistisches Material von den Altvorderen. Und eines Tages beschlossen die Altvorderen in ihrem internen Zirkel, ihren WPhV nicht vor die Hunde gehen zu lassen, sondern mich nichtsahnenden Bildchensammler und Nummernabhacker zum Ersten Vorsitzenden zu machen. Seither hat sich der Kern des Angebots (tolle Phila-Gespräche, Beratungen usw.) zwar nicht geändert, doch vieles ist dazu gekommen: Tauschen, Vorträge, Jugendarbeit (wir haben 18 Mitglieder unter 15 Jahren, gestern zu unserem Treff waren 6 da, darunter Leander zur Premiere und Justus, der einen Schantl-Katalog geschenkt bekam inklusive Aufklärungskurs, was Plattenfehler sind und wie sie bei Oberrändern schlau zu finden sind, wenn da "f3" steht), Ausstellungen, u.a.m. Wir haben eine Runderneuerung mit rund 50% neuen Mitgliedern seit 2006 geschafft.

Da kommen zu unseren Treffen Mitglieder wie Klaus (ca. 55 Jahre), der mit Null-Phila-Wissen bei uns vor 2 Jahren reingestolpert ist, sich für Flugzeuge (Motiv) interessiert und erklärtermaßen gar keine Lust auf eine klassische tolle wert-/nachhaltige Sammlung hat. Ihn interessieren nur Flugzeugtypen und wie sie auf Briefmarken dargestellt werden (korrekt, nicht korrekt usw.). Alle durchforsten regelmäßig ihre Alben nach Flugzeug-Motivmarken, um sie ihm das nächste Mal mitzubringen (geschenkt natürlich) und seine Analyse und Bewertung dazu zu hören. Und ab und zu bringt mir Freund Klaus ein Buch vom Spanischen Bürgerkrieg, das er auf dem Flohmarkt irgendwo gefunden hat, und anderen Sammlerfreunden entsprechendes. Nur ein Beispiel. Natürlich wird auch bei uns getauscht, so rund 2-4 Sammler jedes Mal, wobei unsere Philosophie ist, dass wir in einer Art Reservat sind, wo es nichts zu jagen gibt, sondern wo es die Aufgabe von uns allen ist, Begeisterung zu erzeugen und sich zu befruchten. Win-Win-Situationen zu schaffen. Schnäppchenjäger, Über's-Ohr-Haier u.ä. haben bei uns keine Chance, sondern werden des Feldes verwiesen. Für diese sind die Tauschtage usw. da, aber nicht unser Vereinsabend. Das ist unser Produkt "Breitensport".

Auf der anderen Seite haben wir auch die Spitzensportler, die beispielsweise mit ihrer Krone/Adler-Spezialsammlung kommen und uns über Plattenfehler und andere Besonderheiten aufklären.

Und selten verlässt einer von uns vorzeitig den Vereinsabend, selbst wenn, wie gestern, Bayern München spielt: So hatten wir gestern unseren Vereinsabend und es kam neben dem Stamm dieses Mal auch wieder (wie fast jedes Mal) ein "Realisierer" mit seinen Vordruck- und Einsteckalben von seinem verstorbenen Opa und als wir über seine Sammlung philosophierten, musste er nach rund 3 Stunden sein Bild von uns Briefmarkensammlern komplett revidieren und sagte, dass er wiederkommen würde, es wäre so interessant bei uns gewesen. 5%-Chance auf ein neues Mitglied. Das ist ehrliche Basisarbeit und Mitgliederwerbung.

Jeder Vereinsabend bei uns ist großes, spannendes und kurzweiliges Kino mit immer neuen Situationen und Geschichten und auf jeden Falle immer besser als jeder Abend in den Foren. Deswegen bin ich eigentlich immer bei den Vereinstreffs dabei, auch wenn es ineffektiv und ineffizient für die Weiterentwicklung meiner Sammlung ist.

Unglaublicherweise hat unser Schwabenverein sogar Fans in Berlin: Einer schrieb uns im letzten Jahr zum Thema, warum Ortsvereine so klasse sind:

"Heute hatte ich ein krasses Erlebnis in einem Ortsverein in XYZ [OV dem Verfasser bekannt]. Der Abend begann wie immer. Rentner tranken Bier und schoben sich gegenseitig Kartonphilatelie und Bildchenmarken zu. Auf den ersten Blick alles ältere Herren, die auch noch nach über 40 Jahren DDR komplett sammeln … in den Eckchen ein paar Spezies die sich immer und immer wieder von zehn Jahre alten Auktionserlebnissen in ihrem verwaisten Spezialgebiet erzählen - dazu der Eine der jedem Neuling fast noch vor dem Gruß das Wort "China" ins Gesicht sagt.

Dann aber: Ein Kurzvortrag zu den neuen Erkenntnissen zur Potschta - die ja komplett faul sein soll, wie ein investigativer Philatelist ermittelt hat. Und auf einmal legen die alten Herren ihre Bildchenmarken und die Kartonphilatelie beiseite und fangen eine hitzige Diskussion an, rasseln Namen von Prüfern runter, wem was zuzutrauen ist, wer wen kennt und wie lange schon mit ihm säuft. Wie Unterschiede in der Druckfarbe unter der Quarzlampe anhand der Partikeldichte bei verschiedenen Druckstadien zu unterscheiden ist, wird nur kurz abgenickt. Es folgt eine peinlich genaue Erörterung der Sachlage in Dresden an jenem Tag! Ungewöhnliche Detailkenntnisse kommen ans Licht, Sammlerkarrieren werden sichtbar, so als sei das Spiel mit den Bildchenmarken nur eine einzige große Tarnaktion gewesen.

Die Diskussion klingt ab, die älteren Herren werden wieder ruhig und schieben erneut die Bilder hin und her, und nächsten Monat werden sie wieder kommen und es genau so machen und sich begrüßen als wüssten sie von nichts. Der eine ging rauchen, der andere bestellte noch ein Bier, und ich saß da, mit offenem Mund, und staunte. So viel zum Thema Breitensport in den Vereinen."

 
Quelle: www.philaseiten.de
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