Thema: Zukunftssicherung deutscher philatelistischer Vereine
olli0816 Am: 07.05.2018 11:20:44 Gelesen: 9991# 20@  
Hallo,

ich sammle inzwischen seid etwa 40 Jahren Briefmarken (seit meinem 10. Lebensjahr) und gehöre keinem Verein an. Ich hatte mal zu meiner Schulzeit Kontakt zu dem lokalen Briefmarkenverein und habe recht schnell gemerkt, dass das nicht meine Welt ist. Ich fühlte mich damals nicht für voll genommen und habe nach kurzer Zeit den Kontakt wieder abgebrochen. Damals war Briefmarken sammeln sehr viel schwerer als heute. Neben den großen Tauschtagen (z.B. in München auf dem Nockherberg) gab es Briefmarkengeschäfte und die Post. Dazu hatte ich in der 5. Klasse so ziemlich meine halbe Schulklasse animiert zu sammeln, um etwas mehr Abwechslung zu haben.

Heute schaut die Sache ganz anders aus. Die letzten Beiträge signalisieren es: Durch die Digitalisierung gibt es so viele Möglichkeiten wie nie. Sei es für die Freizeitgestaltung, im Finden von Menschen mit gleichen Interessen und natürlich Foren wie diesem hier, wo ich sehr schnell Antworten bekommen kann und selber auch interessante Belege/Briefmarken für andere einstellen kann. Wie überall wird es hier mehr Mitleser geben als Leute, die aktiv einstellen. Daneben eBay, Delcampe etc., wo ich fast unbegrenzt Marken zu jedem x-beliebigen Sammelgebiet bekommen kann. Das Einkaufen bei Auktionshäusern ist auch sehr viel einfacher geworden, ich kann sogar bei einigen live mitbieten. Daneben gibt es Gruppen in den sozialen Medien. Also alles Dinge, die im Wettbewerb zu einem Verein stehen. Gerade was Netzwerke betrifft, bin ich sehr belastet, da ich durch meine freiberufliche Tätigkeit mitbekomme, wie sehr sich die Technologien und dadurch die Möglichkeiten verändern. Die zunehmende Schnelligkeit ist auch für mich erschreckend, aber wir müssen uns damit abfinden, dass sich die Welt immer schneller dreht. Genau dafür sind die Briefmarken für mich so gut in der heutigen Zeit geeignet: Bilden sie doch eine Welt ab, die es so bald nicht mehr geben wird. 1976 war dieser Gedanke absurd, keine Briefmarken mehr zu benötigen und es galt als modernes Mittel zum bewältigen des Postaufkommens, wo die Postunternehmen noch ganz nebenbei schönes Geld durch die Sammler verdienen konnten.

Meines Erachtens werden bis auf wenige Vereine, die etwas besonderes zu bieten haben, die restlichen schlicht aussterben. Man muss schon blind sein, um die Entwicklung nicht sehen zu können. Das Durchschnittsalter ist ständig steigend und bereits heute weit fortgeschritten. Das liegt nicht nur daran, dass es tendentiell weniger Sammler gibt, ist aber natürlich auch ein Grund. Für die Erweiterung seiner Sammlung braucht man heute keinen Verein mehr. Bleiben also die Kontakte und das vermittelnde Wissen. Aber auch hier wird die Digitalisierung immer stärker. Hat jemand z.B. ein exotisches Sammelgebiet wie Japan oder Australien, dann ist das Netz dein Freund. Ich kann Glück haben und in einem Verein einen Mitstreiter kennen lernen. Und der ist vielleicht neu für mich, weil er sich mit Internet & Co. nicht beschäftigen will und dort nicht aufzufinden ist. Aber hier prallen von der Mentalität zwei Welten aufeinander: Jemand der sich nicht mit der aktuellen Entwicklung beschäftigt, hat ganz viele Themen, wo er nicht mitsprechen kann die für mich seid z.T. vielen Jahren selbstverständlich sind. Das ist einfach nur schwierig für beide Seiten. Wenn dann noch Bemerkungen kommen, dass sich jemand in seinem Alter nicht mehr mit Computern beschäftigen möchte, dann wird es für mich einfach nur dünn. Ich weiß, das klingt etwas arrogant (wird mir gerne manchmal vorgeworfen), aber so fühle ich nunmal und kann und will mich auch nicht dagegen wehren.

Dann kommen noch die Vereinszeiten, wann die Treffen stattfinden. Häufig irgendwann unter der Woche von 19.30 Uhr - 21 Uhr oder was auch immer. Für ganz junge Sammler total ungeeignet. Dann meistens irgend ein drittklassiges Vereinsheim/Gasthaus, was für jüngere Leute auch in den 20ern oder 30ern nur mäßig interessant ist. Oder alternativ eine Schule oder sonstige inspirationslose Umgebungen, wenn man das unterklassige Gasthaus nicht haben möchte. Je nun, ich habe wenig Zeit, die ich aufteilen muss unter meinen Interessen und die verbringe ich weder gerne in der einen oder anderen beschriebenen Umgebung. Ich trinke sicher gerne mal ein Bier und ich gehe auch gerne mal in ein zünftiges Gasthaus. Aber als Verein an einem Ort, den ich sonst nicht unbedingt aufsuchen würde, ist nicht so mein Ding. Sorry, meine private Meinung, wie ich mein Leben gestalten möchte. Da lass ich auch nicht mit mir diskutieren.

Dann die Webauftritte, sofern vorhanden. Hier ist sehr häufig eine fürchterliche klassische Webseite gemeint, von Ansichten auf mobilen Geräten müssen wir uns gar nicht unterhalten. Manche umgehen das Dilemma, indem sie gleich nur eine Facebookgruppe aufmachen, was in fast allen Fällen mit Sicherheit die bessere Option ist. Wenn ich mir die Webseiten vom Stil her anschaue, bekomme ich in fast 100% der Fälle Augenkrebs. OK, das wäre nicht schlimm. Philaseiten ist optisch auch kein Höhepunkt, aber dieses Forum bietet im Gegensatz zu fast jeder Vereinsseite und zu sehr vielen Argen-Seiten (wobei es hier von der Information und teilweise Gestaltung sehr gute Gegenbeispiele gibt) sehr viele Informationen. Das heißt, man muss jetzt nicht die große Optik erwarten, wenn eine Seite nützlich ist. Bei den Vereinsseiten habe ich häufig sehr veraltete Informationen, manches ist lückenhaft und interessant ist bis auf das Impressum nichts. Sorry, dann lieber Facebookgruppe. Das Problem ist hier die Zusammensetzung der Mitglieder der Vereine. Selbst wenn man ein Autorensystem für alle BdPh-Vereine einsetzen würde, damit Leute ohne Programmiererfahrung Inhalte einsetzen können, sähen die Seiten danach alle zum einen total gleich aus und zum anderen wären sie inhaltlich genauso mager, weil es zu wenig Leute gibt, die Lust und Laune haben, interessante Dinge online zu stellen. Was wird es auch bringen, wenn dann 80% der Vereinsmitglieder entweder nicht wissen, was eine Mailadresse ist oder sich für das digitale Zeugs nicht interessieren? Andererseits: Wer soll denn sonst den Verein finden und feststellen, dass es einen Mehrwert hat, sich zumindest mal mit den Leuten in Kontakt zu setzen? Ein Spagat, der kaum zu erbringen ist.

Ich denke, dass überregionale Vereine das Thema der Zukunft sind. Der englische Nobelverein ist deswegen so erfolgreich, weil er zum einen länderübergreifend ist und zum anderen Dinge bietet, die ich sonst nirgendwo bekommen kann. Meines Erachtens wird dieser Verein, wenn er in Zukunft sich noch internationaler stellt und die Hürden für den Eintritt etwas senkt (die 3 Empfehlungen, wenn ich richtig informiert bin), sogar schneller wachsen. Das heißt, das Konzept ist so gut, dass es Leute gibt, die Interesse an einem Eintritt haben und sogar dafür bereit sind, einiges an Mitgliedsgebühren zu zahlen. Der Verein erinnert mich an die alten klassischen Filme, wo irgendetwas auf der Welt entdeckt werden will um 1850 und damit beginnt, dass zwei oder drei Gestalten in einem alten Clubhaus in irgendwelchen Couchsesseln bei einem guten Drink sitzend leidenschaftlich darüber diskutieren, wie sie die neuen Forschungen umsetzen mögen. Genau der Charme ist das einzigartige und das zieht Leute an.

Im großen und ganzen kann ich keine Tipps für kleine Ortsvereine geben. Ich bin sehr pessimistisch, was das Überleben betrifft. Das gilt auch für das ganze Konstrukt mit den Landesverbänden und dem BdPh genauso, weil sie einfach die heutige Zeit nicht mehr abbilden. Das liegt zum einen an der Unflexibilität, z.T. an den beteiligten Personen aber auch an den äußeren Einflüssen. Briefmarken sammeln hat für viele Menschen heute ein extrem schlechtes Image. Und da sind wir natürlich auch ein bisschen selber schuld, weil wir glauben, dass organisierte Philatelie so aussehen muss wie im Jahre 1920.

So, jetzt habe ich für heute genug für die Philatelie getan. Schließlich habe ich für diesen Erguss immerhin eine Stunde meiner Lebenszeit hergegeben. Das muss für heute reichen.

Grüße
Oliver
 
Quelle: www.philaseiten.de
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