Thema: Deutsches Reich 909/910 SA/SS: Michel streicht die Briefnotierungen
olli0816 Am: 11.06.2019 20:39:25 Gelesen: 145076# 183@  
Hallo zusammen,

heute möchte ich zwei Auktionslose der Gärtner-Auktion vorstellen. Es handelt sich mal wieder um Briefe der Michel 909 - 910, dazu noch ein paar weitere Marken. Das zweite vorgestellte Los ärgert mich gar nicht mal, aber das erste ist gelinde gesagt - OK, das schreibe ich besser nicht, sonst wird das noch zensiert. :)

Los Nummer 22172 Beschreibung:

1945, 20.4. + 21.4.: Zwei Orts-Einschreiben jeweils mit den SA/SS Marken der letzten Ausgabe des Dritten Reiches. Der erste Brief vom 20.4. von "BERLIN C43 20.4.45. - 19" nach "BERLIN C 27 21.4.45 - 8", der zweite Brief am 21.4. von "BERLIN W8 21.4.45 - 10" nach "BERLIN-BUCH 16.8.45-10", also ein Überroller. Beide Briefe mit Zusatzfrankaturen.

Der Einlieferer glaubt u.a. anhand des beiliegenden Buches von Wolf-Dieter Röpke, u.a. "Handbuch SA/SS-Briefe vom April 1945", 2010 bei der Forschungsgemeinschaft Berlin erschienen, nachweisen zu können, dass diese beiden Briefe formell echt gelaufen sind und zeitgerecht gestempelt wurden, auch wenn die Beförderung zwischen den beteiligten Postämtern durch Hilfspersonen und nicht durch Postpersonal erfolgte.

Aus formalen Gründen zitieren wir hier den Michel Deutschland Spezial: "Bei Marken in gebrauchter Erhaltung (gestempelt, Brief) handelt es sich vermutlich ausschließlich um rückdatierte Abstempelungen aus den Nachkriegsjahren. Es erfolgt keine BPP-Prüfung."

Hier der Link zu dem Los:

https://www.auktionen-gaertner.de/?FTSearchHTML|Name=DetailsA&Cat=GP&UID=6C51C5934B2FB875C125840700611D3B&Phase=AUCTION&Lang=DE&DetailDB=PHILNET/GAERTNER/GPKATAUK&CID=1&SessionID=tTlDTjzFBxL5kidYlZlm

Und das ist der erste Brief daraus:



Die Rückseite kann man sich sparen, da es keinen Ankunftsstempel gibt. Laut dem Einlieferer hätten Hilfspersonen den Brief befördert. Nur wohin hätten sie diesen Brief befördern sollen? Ich habe mal auf Wikipedia die Postämter gegoogelt:

https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Postbezirke_zwischen_1862_und_1920

Da gibt es z.B. ein Postamt C25 am Alexanderplatz. Aber wo bitteschön ist C27? Das nächsthöhere Postamt ist C43. Wenn ich C27 und Berlin googel, falls Wikipedia dieses schlicht vergessen hat, finde ich auch nichts. Wo war es also? Auf dem Mond oder bei den Russen? Der Brief sollte doch direkt an das Postamt gehen. Oder war es die Kinderpost bei dem Sohn/der Tochter des Hilfsboten? Ich denke, es ist mal wieder ein Brief, der wie im Michel Spezial richtig aufführt, nachgestempelt wurde.

Dann zum zweiten Prachtstück vom 21.4.45, dem vermeintlichen Überrollerbrief (Beschreibung siehe oben):



Berlin-Buch liegt ganz im Norden von Berlin, der Brief ist aus Berlin-Mitte versandt worden. Da er angeblich erst nach Kriegsende ausgeliefert wurde, also nur aufgegeben. Alle Stempel sind wunderhübsch abgeschlagen, geradezu perfekt. Der Bezirk dürfte bei der angeblichen Auslieferung in einem Bereich gelegen haben, der von Russland besetzt war. Hier habe ich eine Frage: Glaubt jemand wirklich ernsthaft, dass ein Postamt unter russischer Führung solch einen Brief mit SA- und SS-Marken und zwei Adolf-Marken so ausgeliefert hätte?

Entschuldigung, da habe ich so meine Zweifel. Die hätte man unkenntlich gemacht oder den Empfänger gleich nach Sibirien geschickt. Dieser Brief entspricht auch den Kriterien des Michel-Spezials: Nachdatiert.

Natürlich bekommt man noch das Handbuch mitgeliefert. Schließlich soll der Spaß ja 1.500 EURO + Aufschläge kosten. Wenn der Einlieferer meint, dies wären echt gelaufene Briefe, wäre es doch sehr schön, wenn die Beschreibung genau die Stelle mit dem Wortlaut des Beweises, warum das so sei, mitliefern würde.

Ich bin mir sogar fast sicher, dass irgend jemand dieses Los erwerben wird, weil es sich so seriös anhört. Aber eigentlich ist es lächerlich. Sorry, liebe Gärtner-Auktionatoren, das ich das schreibe und wenn ich in Zukunft damit unwürdig bin, Kataloge von euch zu bekommen. Aber ich kann es nicht ändern, das Los ist Verarschung pur.

[Redaktioneller Hinweis vom 26.06.2019: Zuschlag: 1.350 Euro]

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Bei dem zweiten Los 22172A bin ich nur im kalten Krieg und nicht auf Kriegsfuß. Wieder ein Brief mit Michel 909/910 und ein paar Adolf-Marken:

1945, SA/SS auf Orts-R-Brief. Aus dem Befund Schlegel (1992): "D.R. Nr. 909/910 auf Einschreibebrief mit Zusatzfrankaturen echt gestempelt "Berlin C 43, 21.4.45. Die Postämter C 43 und C 25 arbeiteten am 21.4.45 noch mit Einschränkungen. Brief portogerecht. Rückseitig fehlender Absender - eine Zustellung kann nicht bestätigt werden. Ob die Anschrift später eingesetzt wurde, läßt sich nicht nachweisen., Befund Schlegel 1992.

Für diese Marken erfolgt AKTUELL keine Prüfung durch den BPP. Vergl. Anmerkung im Michel Spezial zu diesen Marken.

Hier der Link zum Los:

https://www.auktionen-gaertner.de/?FTSearchHTML|Name=DetailsA&Cat=GP&UID=D85CF3A872BBC9FCC12584070061810D&Phase=AUCTION&Lang=DE&DetailDB=PHILNET/GAERTNER/GPKATAUK&CID=1&SessionID=tTlDTjzFBxL5kidYlZlm



Beschreibung:



An diesem schönen, idyllischen Tag des 21.4.45 eine Expresszustellung von 11 Uhr bis 13/14 Uhr von Postamt C43 nach C2. C25 kann ja nicht sein, da war der Brief nicht hinadressiert. Jetzt frage ich mich, wer sendet an die Kassenführung der NSDAP ohne Absender so einen Brief? Und wenn alles so schrecklich eilig war (Zustellung 2 - 3 Stunden bis zum Ankunftsstempel), wer stempelt so perfekt? Hier gilt wieder das im Michel gesagte.

Zu der Adresse: Der Horst-Wessel-Platz ist heute der Rosa-Luxemburgplatz (Geschichte kann manchmal echt lustig sein) und der liegt recht weit im Osten von der NSDAP-Stelle in der Voßstraße entfernt. Vielleicht hat sich Scottie verirrt und mußte nochmal beamen - das wäre dann die sog. Expresszustellung.

100 EURO ist aber für so ein Kuriosum OK, wenn man es besitzen möchte. Das kann jeder selbst entscheiden. Aber richtig gelaufen ist der Brief wohl nicht.

[Redaktioneller Hinweis vom 26.6.2019: Zuschlag: 230 Euro]

Was mir bei beiden Losen auffällt: Mit Zusatzfrankaturen versucht man vorzugaukeln, dass es richtig gelaufene Briefe wären. Es ist allerdings extrem fraglich, dass überhaupt jemals irgendwelche Michel 909/910 in Berlin angekommen sind, da die alle in Wien gedruckt wurden. Nicht viel später wurde Wien von Russland besetzt. Aber eine theoretische Chance besteht, auch wenn sie minimal ist.

Vielleicht gibt's ja noch Spezialisten hier im Forum, die mir das Gegenteil beweisen können.

Grüße Oliver
 
Quelle: www.philaseiten.de
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