Thema: Belege aus der eigenen Familiengeschichte
volkimal Am: 30.05.2020 14:46:35 Gelesen: 120812# 246@  
Hallo zusammen,

ich habe einige Zeit überlegt, welches Kapitel meiner Familiensammlung ich als nächstes zeigen möchte. Ich habe mich für "Das Ende des Krieges und die Zeit danach" entschieden.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war für die Deutsche Bevölkerung sehr schwer. Es herrschte Hunger und alles war knapp. Viele Häuser waren zerstört und es fehlten Wohnungen – zumal die Situation durch die Flüchtlinge aus dem Osten noch verschärft wurde.

Besonders schlimm war, dass von vielen Angehörigen und Freunden nicht bekannt war, ob sie den Krieg überlebt hatten und wie es ihnen ergangen war. Dadurch, dass der Briefverkehr über Wochen oder Monate hinweg eingestellt war, und erst nach und nach wieder eröffnet wurde, lebten viele Menschen lange Zeit im Ungewissen, was das Schicksal ihrer Familie betraf.

Die drei Brüder Werdermann waren am Ende des Krieges in Deutschland, ihre Schwester Dora lebte dagegen in China. Großvater wohnte in Dortmund, Onkel Hans in Retzin bei Grambow (Pommern, in der Nähe von Stettin) und Gottfried in Zeuthen (Brandenburg, südöstlich von Berlin). Ihre Mutter Hedwig Werdermann war am Ende des Krieges zunächst bei ihrem Sohn Gottfried in Zeuthen und ab Ende September in Berlin im Altenstift.

Großvater war somit in der britischen Zone, Gottfried und Hans lebten dagegen in der sowjetischen Zone. Der Briefverkehr war zunächst vollkommen eingestellt, danach begann er innerhalb der Zonen. Der Briefverkehr von Zone zu Zone war aber noch nicht gestattet. Er kam erst Ende Oktober 1945 wieder in Gang. Der Briefverkehr ins Ausland war aber weiterhin noch nicht zugelassen. Das spielt aber hier keine Rolle, denn auf die Geschichte von Dora und ihren Kindern gehe ich später ein.

Das Kapitel "Das Ende des Krieges und die Zeit danach" ist nach meiner Meinung sehr interessant. Die Notzeit spiegelt sich in der Philatelie in Form von vielen Provisorien wieder. Bei den Belegen aus dieser Zeit sollte man aber auch immer die Texte beachten. Sie geben einen sehr guten Einblick in das Leben im zerstörten Deutschland. Aus diesem Grund gehe ich in diesem Kapitel besonders oft auch auf die Texte der Belege ein.



Diese Karte an Großvater hat Onkel Hans am 16.2.1945 in Löcknitz (Pommern) abgeschickt. Großmutter ergänzte sie später durch den Vermerk: "Eine der letzten Nachrichten vor dem Zusammenbruch". Da der Text der Karte in Stenografie geschrieben ist, kann ich ihn leider nicht lesen.

Die Situation in Deutschland wurde im Frühjahr 1945 immer schwieriger. Die Alliierten rückten immer weiter vor und überquerten am 7. März 1945 bei Remagen den Rhein. Ende März 1945 war das Ruhrgebiet vollständig eingeschlossen, die Verbindung zwischen Großvater (Dortmund) und seinen Geschwistern (Pommern bzw. Brandenburg) war unterbrochen.



Am 3. April 1945 schickt Onkel Hans diese Postkarte mit Antwortkarte (nächste Seite) an Pastor Wolff, den Leiter des Stephanstiftes in Hannover. Der Text der Karte ist hochinteressant, denn er gibt einen Einblick in die letzten Tage des Krieges. Er schreibt:

Sehr geehrter Herr Pastor! Persönlich kennen wir uns zwar nicht. Aber ich bin in sich steigender Sorge um meinen Bruder in Dortmund (Rostock) und Familie, von denen der letzte Gruß vom 11. Februar war. Und jetzt überstürzen sich die Ereignisse dort. Mußten, durften, konnten sie noch raus?? Sprach er bei Ihnen vor, oder in Altenau? Falls Sie jüngere Nachricht von ihm haben, wäre ich Ihnen für kurzen Bescheid sehr dankbar. Wie wird diese Passionszeit des Deutschen Volkes enden? Gott allein weiß es. Sein Wille geschehe!

Auch um Mutter in Berlin-Zeuthen muß man sich sorgen, während wir 25 km hinter der Front noch jede Nacht ungestört schlafen können. Aber die Koffer sind seit 6 Wochen gepackt. Wo soll man noch hinfliehen? Aber wenn der Befehl kommt, muß man mit Dorftreck losziehen. Post gibt es nur noch sehr wenig, meist über 14 Tage bis 4 Wochen alt. Soldaten "an der Front" können einen persönlich besuchen! Wir hatten 6-9 Verwandte meiner Frau aus Ostpreußen aufgenommen, jetzt mußten sie und alle Evakuierten fort, um Quartiere für Soldaten frei zu machen. Ob und wo sie landeten, wissen wir noch nicht. Viele Familien wissen nichts voneinander, die Soldaten leiden auch sehr darunter. Und trotz allem möchte man immer noch hoffen! Dankbar sind wir, das Osterfest noch zu Hause erleben zu können. Viele Grüße sendet Ihnen und Ihrer Familie, auch von meiner Frau.
Ihr Johannes Werdermann


Wie der Eingangsstempel des Stephanstiftes zeigt erreichte die Karte ihr Ziel erst am 20. November 1945. Es handelt sich hier um einen sogenannten "stummen Überläufer", d.h. die Karte ist noch während des Krieges abgeschickt, aber erst nach dem Ende des Krieges zugestellt worden, sie trägt aber keinen Zensurvermerk oder sonstige postalische Vermerke hierzu. Das einzige ist der private Eingangsstempel des Stephanstifts. Hannover wurde zwar erst am 10. April besetzt, also eine Woche nachdem Onkel Hans diese Karte abschickte. Wenn man die Beförderungszeiten in den letzten Kriegswochen betrachtet, so kann man dennoch ohne weiteres davon ausgehen, dass der private Eingangsstempel echt ist. Alfred Meschenmoser schreibt in seinem Werk "Überroller-Post 1945-1949" (S.17):

Philatelistische Kenner jener Zeit wissen, daß April-Post nur noch innerhalb einer begrenzten Region gelaufen sein kann. Einen weiträumigen Postverkehr gab es nicht mehr, April-Post ist normalerweise Überroller-Post.



Im Ortsstempel ist übrigens die Postleitgebietszahl (4) nachträglich eingesetzt. Das Postleitgebiet 4 = Pommern lag nach dem Krieg zum größten Teil in Polen. Die Bereiche in der sowjetischen Zone wurden im Juli 1945 dem Postleitgebiet 3 = Mecklenburg zugeschlagen.

Soviel für heute. Demnächst geht es weiter.

Viele Grüße
Volkmar
 
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