Thema: Württemberg 70 Kr Marke: Die Suche nach der Wahrheit / Peter Feuser vs. BPP
Richard Am: 24.04.2022 09:07:37 Gelesen: 2555# 2@  
Errare humanum est, sed in errare perseverare diabolicum.
Irren ist menschlich, aber auf Irrtümern zu bestehen ist teuflisch.

Seneca, Epistolae morales


NACHSTEMPELUNGEN DER WÜRTTEMBERG 70 KREUZER IM ZUSAMMENHANG MIT DEN RESTBESTANDSVERKÄUFEN

von Peter Feuser AIJP, FRPSL

Meine Aussagen zur Problematik sind eine unmaßgebliche Meinungsäußerung. Sie enthalten neben Tatsachen auch durch Indizien unterlegte Vermutungen und Spekulationen. Es bleibt jedem unbenommen, anderer Meinung zu sein. Selbstverständlich akzeptiere ich konträre Meinungen, sofern sie sachgerecht mitgeteilt werden.

Dem Prüferverband bzw. der Verbandsprüfstelle liegt ein vielseitiger Schriftsatz von mir zum Thema vor. Die ursprüngliche Form dieses Artikels habe ich bereits im Frühjahr letzten Jahres auf meiner Homepage veröffentlicht. Die Gegendarstellung der Fachprüfer bzw. der BPP-Verbandsprüfstelle kann auf der Homepage des BPP bzw. auf meiner Homepage eingesehen werden.

Einführung und Außerkurssetzung der 70 Kreuzer-Marke.

Obwohl die Möglichkeiten von Barfrankaturen bestanden und diese sogar bei der Fahrpost vorgeschrieben waren, verfügte die württembergische Postverwaltung 1872 die Herausgabe einer Freimarke zu 70 Kreuzer (= 1 Gulden 10 Kreuzer oder umgerechnet rund 2 Mark) zum Zwecke der Frankierung von Auslandsbriefen mit hohen Portostufen. Diese kamen allerdings bereits zu dieser Zeit nur äußerst selten vor. Die Ausgabe der 70 Kreuzer Marken ausschließlich zum Zwecke der Frankierung von überschweren Auslandsbriefen war ein bürokratischer Irrtum und die Begründung für die Ausgabe der 70 Kreuzer-Marken zu diesem Zwecke in der Einführungsverordnung ist nicht nachvollziehbar. Viel wahrscheinlicher ist die Annahme, dass die Marke (analog zum Erscheinen der 1 und 2 Mark-Marken von Bayern) im Vorfeld der Frankierungsmöglichkeit von Fahrpostsendungen Anfang 1874 eingeführt wurde.

Der Anteil an Briefen, die eine Frankatur von 70 Kreuzer-Marken erforderlich gemacht hätte, muss bei einem Millionenaufkommen dieser Zeit an übrigen Briefen nahe Null gewesen sein.

Ein deutliches Indiz dafür ist die Tatsache, dass mit Erscheinen der Ziffernausgabe 1869 der bisher übliche Höchstwert von 18 Kreuzer auf 14 Kreuzer gesenkt wurde (bei der letzten badischen Ausgabe sogar auf 7 Kreuzer). Mir ist im übrigen kein Brief der Ziffernausgabe von 1869 bis 1873 bzw. bis 1876 bekannt, der eine Frankatur mit 70 Kreuzer-Marken erforderlich gemacht hätte. Wäre ein entsprechender Bedarf vorhanden gewesen, dann müssten doch wohl viele Dutzende derartiger Briefe der Ziffernausgabe im Handel nachweisbar sein. Die Briefe verblieben ja im Gegensatz zu den Paketkarten beim Empfänger, und um 1875 entwickelte sich das Briefmarkensammeln in den gutbürgerlichen Haushalten der Kulturstaaten zu einem weit verbreiteten Hobby. Es gab bereits Briefmarkenkataloge, Alben und Zeitschriften, Vereine und Verbände.



70 Kreuzer-Marken aus dem Bedarf

Die Marke wurde zunächst nur an den Briefpostschaltern der Postämter in Stuttgart, Ulm und Heilbronn vorgehalten. [1] Im Jahre 1873 kam nur Wildbad hinzu, offenbar vorsorglich für denkbare Korrespondenzen der zahlreichen ausländischen Kurgäste. Größere Postämter wie etwa Tübingen oder Ravensburg meldeten hingegen keinen Bedarf an. Die Annahme der Prüferseite, dass durch die prophylaktische Vorhaltung der 70 Kreuzer im Kurort Wildbad ein echter Bedarf für ihre Verwendung auf Briefpostbelegen darstellbar wäre, ist unsinnig.

Der Statistik zufolge wurden vom 1.1.1873 bis 30.6.1873 nur 471 Marken verbraucht, ab 1.7.1873 bis 30.6.1874 bereits 4.898 Stück und vom 1.7.1874 bis zur Außerkurssetzung der Marke am 30.6.1875 nochmals 13.750 Stück. Brühl/Thoma schätzen, dass bis zur Möglichkeit der Fahrpostfrankierung mit Freimarken nicht über 1.200 Exemplare der 70 Kreuzer verbraucht wurden, hochgerechnet bis 30.6.1875 wohl über 2.000 Stück für diesen Verwendungszweck. [2] Die Prüferseite ist der Meinung, dass diese Exemplare für überschwere Auslandsbriefe und nicht für die von mir angenommenen internen Verrechnungszwecke verwendet wurden.



Die für Nachstempelungen auf 70 Kreuzer-Marken verwendeten drei Briefpoststempel der Postämter Stuttgart I und IV sowie der Fahrpost-Fächerstempel des Postamtes Stuttgart IV

Normale Auslands- oder Chargébriefe mit der 70 Kreuzer-Marke sind bis jetzt keine bekannt geworden und auch nicht wahrscheinlich. Abgesehen vom minimalen Aufkommen an Auslandsbriefen, die einen Frankaturwert von über 70 Kreuzer erforderten, war das Verfahren zur Frankierung äußerst kompliziert. Es durften überhaupt nur Briefe mit 70 Kreuzer- Marken frankiert werden (zunächst durch Barfrankatur und anschließende Weiterleitung an die „Bearbeitungsstellen“ in den Postämtern Heilbronn, Stuttgart und Ulm), wenn der vorder- und rückseitige Platz nicht durch Aufkleben mit den kleineren Wertstufen der Ziffernausgabe bis 14 Kreuzer ausreichte. Lt. Postordnung von 1869 war die rückseitige Frankierung bei vorderseitiger Platznot ausdrücklich erlaubt. Es bestand die Möglichkeit von Bar- oder Teilbarfrankaturen, sehr schwere Briefsendungen mussten mit der Fahrpost befördert werden. Es gibt keinerlei Belegstücke (weder Briefstücke noch Briefe), dass 70 Kreuzer-Marken auf Briefen frankiert wurden. Ich selbst bin überzeugt davon, dass keine einzige 70 Kreuzer auf Belegen der Briefpost Verwendung fand.

Möglicherweise wurden die für 1873 genannte Anzahl der Marke zu Verrechnungszwecken im Bereich Telegrafie oder Zeitungsüberweisungen u. ä. verwendet, bis zum Ende der Gebrauchszeit hochgerechnet die oben genannten rund 2.000 Stück. Aufgabeformulare aus diesen Bereichen wurden grundsätzlich wegen des Postgeheimnisses nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen vernichtet (dies galt auch in Bayern und im Reich). Es sind nur ganz wenige frankierte Formulare oder Formularabschnitte erhalten geblieben. Sie dürften aus aufgelösten Akten stammen, in denen sie aufgrund von Kundenreklamationen o. ä. für Untersuchungszwecke aufbewahrt werden mussten. Auch wegen der ganz besonders hohen Sicherheitsmaßnahmen für die Innendienstmarken ist es äußerst unwahrscheinlich, dass ungebrauchte oder gebrauchte Exemplare aus dieser Periode in den Handel gelangt sind. Von Prüferseite wird die Verwendung der 70 Kreuzer für interne Verrechnungszwecke bestritten. Es heißt:

„Es gab konkreten Bedarf für diese Marken im Rahmen der Briefpost (höhergewichtige Auslandsbriefe), dies war im Übrigen der alleinige Grund, die Marke auszugeben. Leider ist keiner dieser Briefe erhalten geblieben. Dass die Marke für Verrechnungszwecke genutzt wurde, ist reine Spekulation und u. E. abwegig. Es gibt keine Verlautbarungen hierzu seitens der Postverwaltung.“



Typische Bedarfsstücke der 70 Kreuzer mit zeitgerechten Entwertungen

Die genannten hochgerechnet ca. 2.000 Exemplare müssten allesamt auf überschweren Auslandsbriefen Verwendung gefunden haben. Dies ist selbstverständlich völlig absurd, wenn in fast 150 Jahren weder ein Brief noch ein Briefstückchen mit einer 70 Kreuzer-Marke aufgetaucht ist. Meine Annahme, dass die Marke auch für Verrechnungszwecke verwendet worden ist, hat Hand und Fuß. Die Verwendung von Freimarken für Verrechnungszwecke wird dokumentiert durch einen zufällig erhaltenen Formularabschnitt mit einem Sechserblock der 9 Kreuzer Ziffernausgabe mit einem Ovalstempel der Stuttgarter Zeitungsexpedition (vgl. 3. Trost-Auktion, Los 919), der von einem aktuellen Attest Heinrich begleitet wird.

Die Prüferseite sollte ihre Meinung, dass die Verwendung von Freimarken (inclusive der 70 Kreuzer) für Verrechnungszwecke „abwegig“ ist, überdenken. Für diese Zwecke wurden auch sehr hohe Beträge mit Briefmarken verrechnet, das belegen ähnliche Verwendungen bei Thurn & Taxis, in Bayern und im Reich auch zeitgleich zur Verwendung der 70 Kreuzer-Marken. Die Höchstwerte der 1870 in Bayern erschienenen Telegrafenmarken betragen 4 und 23 Gulden! Es ist nur verständlich, dass aufgrund der Vernichtungsvorschriften für derartige Formulare nur ganz wenige Belegstücke erhalten geblieben sind. Hingegen müssten von den angeblich zahlreichen Briefpostverwendungen der 70 Kreuzer zumindest dutzende Briefe oder Briefstücke erhalten geblieben sein, da die Briefe ja im Gegensatz zu den Innendienstformularen die Empfänger erreicht haben und dort verblieben. Zum Vergleich: Von der in vielfacher Millionenauflage erschienenen Massenmarke Baden Nr. 18 wurde, dies etliche Jahre vorher, in Stockach ein ungezähnter Bogen von 100 Stück verausgabt (Mi. 18U). Von der unscheinbaren und von Sammlern meist unbeachteten Marke sind 22 ungezähnte Exemplare im Handel nachzuweisen!

Verlautbarungen der Postverwaltungen zu dienstbezogenen Vorgängen konnten öffentlich, intern oder auch überhaupt nicht erfolgen. Keinesfalls sind aufgrund des Fehlens amtlicher Erlasse oder Dienstvorschriften berechtigte Zweifel an meinen Ausführungen erlaubt.

Forennutzer Jürgen Herbst schreibt bei anderer Gelegenheit im stampsX-Forum am 22.2.2009:

Die philatelistische Forschung (wenn man die postgeschichtliche Erkenntnissuche so nennen will) wäre längst am Ziel angekommen, wenn sich alles mit Dienstvorschriften, Verträgen und sonstigen Dokumenten erschließen und beweisen ließe. In den meisten Fällen ist man dagegen auf empirisch/statistische Untersuchungen angewiesen. Sie haben den Nachteil, Ergebnisse lediglich mehr oder weniger wahrscheinlich, aber nicht im wissenschaftlichen Sinne sicher zu machen.

Ab 1.2.1874 konnten bzw. sollten Fahrpostsendungen (Paketkarten, Wertbriefe, Nachnahmen, überschwere Drucksachen usw.) mit Marken frankiert werden. Dadurch erklärt sich die bedeutende Steigerung der verbrauchten 70 Kreuzer-Marken in den Jahren 1874 und 1875.

Nach jetzigem Erkenntnisstand wurden die Marken ab dem 1.2.1874 ausschließlich auf Paketkarten verwendet, andere Fahrpostverwendungen sind wohl nur theoretisch möglich. Die bekannten Wertbriefe mit 70 Kreuzer haben sich als Fälschungen herausgestellt.

Hierzu schreiben die Fachprüfer:

Es gab stets konkreten Bedarf für diese Marke im Rahmen der Briefpost (höhergewichtige Auslandsbriefe). Eine Verwendung ausschließlich bei der Fahrpost zu unterstellen, ist falsch.

Die These von Peter Feuser, dass 70 Kr. nur auf Paketkarten echt und zeitgerecht entwertet vorkommen können, ist eine Fehleinschätzung mit gravierenden Folgen. Daraus erwachsen letztlich weitere Fehlannahmen und Theorien.


Auch die vielfache Wiederholung dieser irrigen Ansicht hilft uns nicht weiter. Es gibt keinerlei Belege für die Verwendung der Marke bei der Briefpost. Die Voraussetzungen, die eine Briefpostverwendung der 70 Kreuzer ermöglicht hätten, sind nicht gegeben oder allenfalls theoretischer Natur. Auch der Abstempelungscharakter (Gefälligkeit) der mit Stuttgarter Briefpoststempeln nachentwerteten 70 Kreuzer-Marken lässt den eindeutigen Schluss zu, dass diese Marken niemals auf Bedarfsbriefen verwendet wurden.

Die amtliche Zusammenstellung der Gebrauchsorte der 70 Kreuzer dürfte fehlerhaft sein. So sind für Stuttgart nur die Postämter I und II angegeben und auch sehr unbedeutende Postämter wie Langenargen oder Obermarchthal. Bedeutende Mittelzentren wie Künzelsau, Aalen oder Nagold fehlen. Auch den Postämtern Stuttgart III und IV wurden 70 Kreuzer Marken zugeteilt, wie eindeutige Bedarfsverwendungen belegen. [3]

[1] Köhler/Sieger, Die Briefmarken von Württemberg 1851–1881, Lorch, 1940: S. 112 ff.
[2] Köhler/Sieger, S. 117
[3] Köhler/Sieger, Aufstellung der Gebrauchorte auf S. 17
 
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