Thema: Württemberg 70 Kr Marke: Die Suche nach der Wahrheit / Peter Feuser vs. BPP
Richard Am: 26.04.2022 12:06:30 Gelesen: 2117# 4@  
Stuttgarter Briefpoststempel auf 70 Kreuzer-Marken

Wenn die 70 Kreuzer-Marken ab 1.2.1874 ausschließlich auf Paketkarten verwendet wurden, was ja festzustehen scheint, dann ist eine Entwertung mit den drei Briefpoststempeln der Postämter Stuttgart I und IV als Aufgabestempel auf Paketkarten technisch ausgeschlossen. Es war unmöglich, an einem Briefpostschalter der großen Stuttgarter Postämter ein Paket aufzugeben. Die Schalter verfügten weder über die entsprechenden Fahrpostmanuale noch über Fahrpostlabels und -Einlieferungsscheine. Es waren keine Waagen für die schweren Pakete vorhanden und wohl auch kein geschultes Personal für die Errechnung der oft komplizierten Taxen. Natürlich dürften auch keine 70 Kreuzer-Marken und Paketkarten verfügbar gewesen sein.

Hierzu der übliche Kommentar der Fachprüfer:

„Dies ist eine gravierende Fehleinschätzung, 70 Kr.-Marken wurden stets auch für die Briefpost verwendet.“

In den großen Stadtpostämtern waren die Briefpost- und Fahrpostannahme räumlich stark getrennt. Es wäre undenkbar, täglich einige hundert oder gar tausend Paketsendungen in den Schalterräumen der Briefpost aufzugeben. Dafür gab es die sog. Packkammern mit „Wagenhöfen“. Alte Lithografien und Stahlstiche zeigen ein Mordsgewusel aus Pferdefuhrwerken, Leuten mit Handkarren voller verschnürter und versiegelter Pakete und zahlreichen Postbediensteten. Die „Schalter“ bestanden aus Pulten und Tischen, an denen Postbeamte die Sendungen bearbeiteten.

Die Fachprüfer irren erneut:

„Höhergewichtige Auslandsbriefe wurden am Briefpostschalter aufgegeben, mit 70-Kr.-Marken versehen und mit Stempeln der Briefpost entwertet.“

Brief- und Fahrpost hatten unter diesen Umständen natürlich verschiedene Stempel, im Gegensatz zu kleinen Postämtern. Diese nahmen Brief- und Fahrpostgegenstände in aller Regel an einem gemeinsamen Schalter an und benötigten deshalb auch keine gesonderten Fahrpoststempel. Mittelgroße Postämter benutzten an verschiedenen Schaltern in gleichen oder naheliegenden Räumen verschiedene Stempel, die bei Bedarf im Gegensatz zu den großen Postämtern leicht getauscht werden konnten. Als Beispiel nenne ich die vorphilatelistischen Zweizeiler, die nach ihrer Aussonderung bei der Briefpost als Fahrpoststempel mit einer gewissen Regelmäßigkeit aushilfsweise wieder bei der Briefpost eingesetzt wurden, in aller Regel mit einer Funktion der später eingeführten Wanderstempel. Derartige Aushilfsverwendungen bei den großen Postämtern sind mir nicht bekannt. Sie hatten genügend Briefpost-Reservestempel.

Es gibt keine Belege dafür, dass die Stuttgarter Briefpoststempel als Aufgabestempel auf Paketkarten Verwendung gefunden hätten. Dies betrifft nicht nur die Kreuzerzeit, sondern nach meinen Beobachtungen auch die anschließende Pfennigzeit bis mindestens etwa 1880. Einige wenige bekannte Fahrpostverwendungen sind sogenannte Postwechselbriefe. Hier wurden Nachnahmebriefe u. ä. versehentlich am Briefpostschalter angenommen, gestempelt und anschließend an die Fahrpost weitergeleitet oder umgekehrt normale Briefe oder Postkarten versehentlich am Fahrpostschalter abgefertigt. Die Prüferseite schließt aufgrund dieser Postwechselbriefe auf eine gelegentliche Verwendung des Briefpoststempels am Fahrpostschalter. Das ist natürlich völlig unrealistisch.



Eine wohl einmalige Zufallsentwertung aus der Boker-Sammlung: Versehentlich blieb der Sechserblock bei der Fahrpostaufgabe ungestempelt und wurde erst beim Übergang der Paketkarte auf die Briefpost mit dem Einkreisstempel STUTTGART des Postamts I nachentwertet. Rein theoretisch ist eine derartige Nachentwertung auch auf 70 Kreuzer-Marken möglich, aber denkbar unwahrscheinlich: Für die Innendienstmarke galten strenge Sicherheitsvorschriften und die Entwertung gleich bei der Aufgabe war in der Einführungsverfügung der 70 Kreuzer ausdrücklich vorgeschrieben.[i]



[i]Auch dieser Sechserblock mit dem Ovalstempel der Zeitungsexpedition des Postamts Stuttgart I dürfte einmalig sein. Die „frankierten“ Innendienstformulare mussten genau so wie die Aufgabe-Telegrammformulare nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen vernichtet werden. Diese Vorschrift bestand auch in Bayern und im Reich. Es sind nur ganz wenige komplette Formulare oder Teile davon erhalten geblieben. Es erschließt sich mir nicht, warum die Prüferseite eine Innendienstverwendung der 70 Kreuzer-Marken für Verrechnungszwecke auf Zeitungsüberweisungen und Telegrammformularen für abwegig erklärt.




Ein Postwechselbrief mit dem grünen Datumsstempel des Postamtes Stuttgart IV. Der Brief wurde versehentlich am Briefpostschalter abgegeben, dort gestempelt und an die Fahrpost weitergeleitet.



Hier das Gegenstück: Ein Chargébrief wurde irrtümlich, vermutlich mit aufzugebenden Wertbriefen, am Fahrpostschalter abgegeben und mit dem Fahrpost-Fächerstempel des Postamtes Stuttgart II versehen, dann aber korrekt zur Briefpost weitergeleitet (K1 STUTTGART II. und L1 CHARGÉ). Dort wurde die Manualnummer „5145“ angebracht.

Gefälligkeitsentwertungen der 70 Kreuzer während ihrer Kurszeit können ausgeschlossen werden. Die Marke durfte nicht an das Publikum abgegeben werden. [7] Ihr Verbrauch wurde streng protokolliert. Verstöße gegen das Abgabeverbot hätten drakonische Disziplinarstrafen nach sich gezogen. Es ist auch nicht bekannt geworden, dass Postbeamte 70 Kreuzer-Marken unterschlagen und zweckentfremdet hätten. Dies geschah allerdings einige Jahre später: Ein Postbeamter hatte einige Innendienstmarken 2 Mark gelb unzulässigerweise an einen Interessenten veräußert. Ein enormer Wirbel war die Folge und führte zur Außerkurssetzung der Marke und ihrem Ersatz durch die 2 Mark rot, mit dem rückseitigen Aufdruck „Unverkäuflich“. [8]

Das Stuttgarter Postamt I benutzte ihren Briefpost-Einkreisstempel STUTTGART gelegentlich als Transitstempel auf Paketkarten, Nachnahmebriefen usw. beim Übergang der entsprechenden Belege von der Fahrpost auf die Briefpost. Paketkarten wurden getrennt von der eigentlichen Sendung mit der Briefpost befördert und am Empfangspostamt wieder zusammengeführt. Es ist theoretisch möglich, dass etwa auf Paketkarten aus vorderseitigem Platzmangel rückseitig geklebte 70 Kreuzer-Marken bei der Aufgabe versehentlich nicht gestempelt, mit dem Briefpoststempel nachentwertet wurden und somit als zeitgerecht entwertet zu gelten haben. Diese Annahme ist aber abenteuerlich angesichts der besonders strengen Sorgfaltspflichen bei den Innendienstmarken und der großen Anzahl an Entwertungen mit diesem Stempel. In der Einführungsverordnung zur 70 Kreuzer wurde die sofortige Entwertung der Marke bei der Aufgabe ausdrücklich angeordnet. [9] Verstöße dagegen hätten unweigerlich disziplinarische Maßnahmen nach sich gezogen.

Nachstempelungen der 70 Kreuzer beim Postamt Stuttgart I.

Die Nachfrage von Sammlern und Händlern nach der 70 Kreuzer-Marke war nach deren Außerkurssetzung am 30.6.1875 wohl groß. Schließlich war es aufgrund des Verkaufsverbotes nicht möglich gewesen, ein Exemplar während der Kurszeit zu erwerben.

Die Postverwaltung entschloss sich, die vorhandenen Restbestände zum Nennwert von umgerechnet 2 Mark an Interessenten abzugeben. Der Verkauf der noch vorhandenen rund 2.850 Exemplare zog sich -aus heutiger Sicht kaum vorstellbar- bis Mitte 1889 hin, erst dann war alles restlos verkauft. Insgesamt erlöste die Postverwaltung nach Angaben von Karl Köhler 10.538 Mark durch den Verkauf ungültig gewordener Marken. Neben der 70 Kreuzer wurde der Haupterlös wohl durch den Verkauf einer weiteren Innendienstmarke erzielt, der 2 Mark gelb (Michel-Nr. 50). [10]



Der Eduard Hallberger-Verlag (ab 1881 Deutsche Verlagsanstalt/DVA) war einer der bedeutendsten Buch- und Zeitschriftenverlage der damaligen Zeit und ist es bis heute. Bekannt wurde er besonders durch die seinerzeit auflagenstärkste Illustrierte „Über Land und Meer“. 1873 führte man Buch- und Zeitschriftenabteilung in einem neuen großen Gebäude in der Neckarstraße 121 zusammen. Wegen des enormen Paketaufkommens des Verlages eröffnete die Postverwaltung im gleichen Gebäudekomplex am 15.12.1873 das Postamt Stuttgart IV.

Obere zwei Reklamekarten des Hallberger-Verlages nach Frankfurt a.M. und Luxemburg (ex Trost). Die untere sehr seltene „Postwechselkarte“ ist versehentlich am Fahrpostschalter aufgegeben worden und wurde auch dort abgestempelt.


Die Verbandsprüfstelle schreibt hierzu:

„Bei einer Menge von 2.850 Werten UND 2 Mark-Werten (wobei der Anteil der Mi. Nr. 52 an dieser Aufstellung zwar nicht geklärt ist, anhand der registrierten Mengen an ungebrauchten Werten aber eher gering sein dürfte), die über einen fast 14 Jahre währenden Zeitraum verkauft wurden, ging statistisch etwa jeden zweiten Tag eine Marke über den Schalter.“

Und die Fachprüfer zu dem Verkauf von Restbeständen der 2 Mark gelb (Mi. Nr. 50).

Falsch. Die Restbestände der Mi. Nr. 50 wurden verbrannt und nicht verkauft.

Verbandsprüfstelle und Fachprüfer widersprechen sich also selbst mit jeweils unzutreffenden Angaben auf peinliche Weise. Die von Karl Köhler genannte Menge von 2.850 Restbestandsexemplaren bezog sich ausdrücklich nur auf die 70 Kreuzer.

Er schreibt:

Ich habe Grund zu der Annahme, daß insgesamt 22.000 Marken zu 70 Kreuzer hergestellt worden sind. Unter dieser Voraussetzung würde sich nach Abzug der im Jahre 1872 an vier fremde Postverwaltungen und an die württ. Postsammlung abgegebenen 30 Stück und der nachweisbar verbrauchten 19.119 Exemplare ein Restbestand von rund 2.850 Stück im Werte von etwa 5.700,- Mark ergeben. [11]

Die Prüferseite hat kritiklos alte Literaturangaben übernommen, dass alle Restbestände der 2 Mark gelb vernichtet wurden. Sollte dies zutreffend sein, wäre die Mi. Nr. 50 die wohl mit Abstand seltenste ungebrauchte Marke aller Altdeutschen Staaten, da ein Verkauf während der Kurszeit nicht möglich war und lediglich einige wenige (lt. Köhler/Sieger „vereinzelte“) durch Postbeamte veruntreute Exemplare im Handel sein könnten. Die Marke ist aber keinesfalls übermäßig selten und kann dutzendfach jährlich, bei einem Katalogwert von 750 Euro, zu einem Preis von ca. 200 Euro auf Auktionen erworben werden. Im Handel befinden sich postfrische Exemplare und ungebrauchte Einheiten. Die im Handel zirkulierenden ungebrauchten Exemplare müssen also zum weit überwiegenden Teil aus den Restbestandsverkäufen vom Sammlerschalter des Postamtes IV. stammen. Auch meine im übrigen genannten Vermutungen dürften zutreffen.

Die Postverwaltung genehmigte offenbar bereitwillig die Gefälligkeitsabstempelung von verkauften 70 Kreuzer. Die Marken hatten ja keine Gültigkeit und die Poststempel damit keinen urkundlichen Charakter mehr. Es wurden scheinbar auch Sonderwünsche erfüllt, wie beispielsweise wappenfreie Abstempelungen u.ä.

Beim Postamt I wurden die 70 Kreuzer-Marken an offenbar zwei Schaltern verkauft. An dem einen bediente man sich für die nachträglichen Abstempelungen des Einkreisstempels STUTTGART, am Schalter für Reco- und Expressbriefe wurde mit dem kleinen Datumsbrücken-K2 STUTTGART POSTAMT I. gestempelt. Der Verkauf der Marken erfolgte während des normalen Betriebes, beide Stempel sind auch für die Abfertigung von normaler Post bis Mitte 1878 bzw. Mitte 1882 belegt. [12]

Hier das übliche Statement der Prüferseite dazu:

Alles frei erfunden. Es gibt keinerlei Verlautbarungen der Post hierzu. Die angeblichen Gefälligkeitsentwertungen des Postamtes I sind bedarfs- und zeitgerechte Briefpostentwertungen.

Meine Aussagen sind keineswegs frei erfunden, sondern sie werden durch zahlreiche eindeutige Indizien unterfüttert und glaubhaft gemacht. Keinesfalls kann es sich um „bedarfs- und zeitgerechte Briepfpostentwertungen“ handeln.


[7] In der Verfügung zur Einführung der Marke am 24.12.1872 heißt es: „Sie darf bei Vermeidung strenger Ahndung nicht zum Verkauf an das Publikum gebracht werden.“ (vgl. Köhler/Sieger, S. 114)

[8] Köhler/Sieger, S. 127: „Entgegen der ausdrücklichen Bestimmung der Postdirektion und dem wiederholten Hinweise darauf, daß die Freimarken zu 2 Mark nicht an das Publikum verkauft und von diesem zur Freimachung von Postsendungen verwendet werden dürfen, ist der Fall der Abgabe an Privatpersonen doch eingetreten. Mit den weiterhin noch aufgeführten Vorkommnissen war dies Geschehnis die Veranlassung, die gelben Marken durch solche in einer anderen Farbe und nicht mehr auf weißem Papier gedruckte zu ersetzen.“ Es folgt ein entsprechender Erlass der Postverwaltung.

[9] Köhler/Sieger, S. 114

[10] Köhler/Sieger, S. 128

[11] Köhler/Sieger, S. 129

[12] Winkler/Klinkhammer, S. 398, 404
 
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