Thema: Lasst die Briefmarke sterben !
Hornblower Am: 28.10.2023 12:39:04 Gelesen: 1016# 9@  
Hallo zusammen,

das Thema wird schon lange diskutiert. Der früheste Fachartikel, den ich zu diesem Thema gefunden habe, stammt aus dem Jahr 1892.

Der Leitartikel der DBZ vom 1. September 1892 (II. Jahrgang Nr. 12) befasste sich nämlich mit genau damit: „Die Zukunft der Philatelie.“ hieß der Titel und dem Verfasser (Stil und Ausdruck deuten auf Carl Lindenberg hin, obwohl der Beitrag nicht signiert ist) war das Thema wichtig genug, ihm fast drei volle Seiten zu widmen.

„Herr Oberlandesgerichtsrat Suppantschitsch1 regt am Schlusse des ersten Teils seiner im Erscheinen begriffenen „Bibliographie“ die Frage an, welche Zukunft der Philatelie beschieden sein würde. Er meint, nichts auf Erden währe ewig, das Bessere trete an die Stelle des Guten und es müsse die Zeit kommen, wo es auch keine Postwertzeichen und somit auch keine Philatelie mehr gebe und wo die großartigen Sammlungen nur mehr in den Museen ruhen würden. Diese Ansicht scheint uns nicht recht schlüssig. Beim Anfang des Satzes könnte man an die ferneren Jahrhunderte denken, wo die Postwertzeichen vermöge ihrer leicht zerstörbaren und dem Zahn der Zeit eher als manches Andere verfallenden Natur überhaupt verschwunden sein werden, aber der Schluss, dass die Sammlungen alsdann nur noch in den Museen vorhanden sein würden, widerspricht dieser Auslegung. Man muss also an die allerdings wohl kaum allzu ferne Zeit denken, wo die Fortschritte des Verkehrswesens das Freimachen bzw. Austaxiren der Sendungen mittels besonderer Wertzeichen überflüssig gemacht haben werden, und wo die Staaten die Marken etc. abschaffen. Dass alsdann aber die Philatelie als Sammelzweig aufhören wird, bestreiten wir entschieden. Möglich, sogar wahrscheinlich ist es zwar, dass ein großer Teil der Sammler abfallen wird. Wer es schon erfahren, wie die Einziehung der Marken der einzelnen deutschen Staaten im Jahre 1868 zusammen mit der Einführung des Einheitsportos hemmend auf die Philatelie gewirkt hat, weil die rote norddeutsche Groschenmarke mit einem Male Universalmarke wurde und den Sammlern dadurch die Gelegenheit genommen wurde, überall her die Marken verschiedener Staaten und somit Anregung zum Sammeln zu erhalten, - der wird es sicher einsehen, dass das Aufhören des postalischen Gebrauchs der Marken ein empfindlicher Schlag für die Philatelie sein wird; aber aufhören wird die Philatelie damit noch lange nicht. Sind heut noch Hellebarden, Streitäxte und Rüstungen in Gebrauch? Fertigt man noch Urnen, präparirt man noch Mumien? Und wie viele Hunderte, ja Tausende von Privatleuten sammeln dergleichen Zeugen vergangener Zeiten! Gerade der Umstand, dass diese Dinge einer vergangenen Epoche angehören, dass ihr Gebrauch aufgehört hat, giebt ihnen einen besonderen Wert, macht sie zum gesuchten Sammelobjekt. Finden sich auch die besten und vollständigsten Sammlungen in den Museen, so giebt es doch auch zahllose Privatleute, die in dem Besitze eines alten Schwerts, eines venetianischen Glases, einer Zusammenstellung von Feuersteinwaffen u. a. ihre Befriedigung finden.

So wird es auch der Philatelie ergehen. Sie wird aus einer modernen Sammelliebhaberei eine Antiquitätenliebhaberei werden, aber dadurch an innerem Werte und an äusserer Achtung nicht verlieren. Jetzt schon werfen sich mit Vorliebe viele, besonders gereifte Sammler auf die Wertzeichen derjenigen Staaten, die mit Ausgabe neuer Marken völlig abgeschlossen haben. Man bevorzugt die sogenannten altdeutschen, die italienischen Staaten, man vernachlässigt die Staaten, die uns mit neuen Ausgaben überschwemmen. Der Grund hierfür liegt hauptsächlich darin, dass wir bei ersteren ein abgeschlossenes Gebiet vor uns haben, dass wir genau wissen, was und wieviel wir zu sammeln haben. Jeder auch nur einigermassen systematische Kopf sehnt sich danach, das Gebiet seines Denkens, seiner Arbeit, und seines Strebens nicht tagtäglich ins Unermessliche hinein erweitert zu sehen. Für den Plan- und Ziellosen ist es ja ganz nett, gegen den Horizont hin zu wandern, diesen niemals zu erreichen, sondern stets neue Bilder auftauchen zu sehen, neue Gegenden zu durchstreifen; aber derjenige, der vorwärtsstrebt, in der Absicht etwas zu erreichen, ermüdet, wenn ihm das Ziel immer ferner gerückt wird, wenn er von Staffel zu Staffel vorstrebend erfährt, dass er immer noch nicht am Ende angelangt sei. Wer, um in unserer Philatelie auf der Höhe zu bleiben, von Monat zu Monat die zahllosen neu erschienenen Wertzeichen seinem Gedächtnis einprägen und auch sammeln muss, der wird wohl den Zeitpunkt herbeisehnen, in welchem diese Hochflut aufhört. Man denke daran, wie eine Sammlung der Marken der französischen Kolonien oder von Nicaragua auch nur nach 10 Jahren angeschwollen sein wird. Erscheint es da nicht besser, die Neuausgaben der Marken hörten ganz auf? Wir können uns kaum eine glücklichere Zeit vergegenwärtigen, als die, wo nicht mehr „Neuheitenlisten“ die Spalten unserer Zeitschriften füllen, wo wir nicht mehr genötigt sind, hinter den Monopolhändlern herzulaufen, um ein von ihnen aufgekauftes Provisorium, ehe es „alle wird“, wird 1000% über den Nominalwert zu bezahlen, wo wir mit Ruhe und Behagen ein Permanent-Album kaufen können, ohne nach einem halben Jahre einzusehen, dass es mit der Permanenz wieder nichts ist. Dann erst wird es sich ermöglichen lassen, die Philatelie wissenschaftlich auszubauen, dann erst wird sie eine ruhige und behagliche Liebhaberei werden, während sie jetzt eine nervöse und sich abhetzende ist...."

Soweit Lindenberg (nehmen wir einfach an, dass er es war!) im Jahr 1892. Vieles von dem, was er hier schreibt, klingt, als ob es letzten Monat in der DBZ oder der „philatelie“ gestanden hätte.

Sehen wir aber auch die positiven Aspekte, die schon Lindenberg durchaus erkannte – die Philatelie wird ebenso wenig aussterben wie die Numismatik oder die Liebhaber von Kunst oder alten Büchern. Es wird immer Menschen geben, die eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung suchen und dafür auch bereit sind, Geld auszugeben. In vielen Bereichen sind wir bereits eine „Antiquitätenliebhaberei“, die Zuschläge auf den Auktionen – nicht nur bei ERIVAN – zeigen dies deutlich. Ist die Philatelie bereits auf dem Weg des „wissenschaftlichen Ausbaus“, um eine „ruhige und behagliche Liebhaberei“ zu werden? Für mich kann ich Frage mit einem klaren „Ja“ beantworten.

Ein schönes Wochenende wünscht
Michael, der seine Bund-Sammlung schon 2000 abgeschlossen hat und sich auf die Ausgaben davor konzentriert. Dazu ein spannendes Thematik-Thema wie "100 Jahre Briefmarken" und Literatur - ich könnte 200 Jahre alt werden, ohne dass Philatelie langweilig werden würde...
 
Quelle: www.philaseiten.de
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