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Thema: Freihandelsabkommen
Francysk Skaryna Am: 22.10.2015 22:06:49 Gelesen: 3028# 1 @  
Moin,

ich weiss, dass dieses Thema polarisiert. Dennoch möchte ich an dieser Stelle ein paar Sätze einwerfen, mit denen ich zum nachdenken anregen möchte.

Der VW - Skandal und Facebook - Urteil haben gezeigt, dass auch die großen Player Gesetze achten müssen. Doch was passiert eigentlich, wenn TTIP in Kraft treten sollte? Viele Bürger machen sich da so ihre Gedanken [1]. Neben schon bekannten Kritikpunkten stellt sich aktuell nach dem Urteil des EuGH sogar die Frage, ob ein Freihandelsabkommen generell funktionieren kann. Die Standards in den USA und der EU sind de Facto nicht nur im Datenschutz zu unterschiedlich. Zudem sind die Abkommen mit dem öffentlichen Demokratieverständis nicht vereinbar. Oder gäbe es sonst so viele und große Demonstrationen? So klagt der Stromversorger Vattenfall derzeit vor dem Schiedsgericht der Weltbank gegen die Bundesrepublik auf 3,7 Milliarden Euro Entschädigung wegen entgangener Gewinne durch die Stilllegung der Atomkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel [3].

Dieser Tage hatte Herr Minister Gabriel in ganzseitigen Anzeigen für TIPP geworben. Dabei werben die TIPP - Befürworter - also nicht nur er - ausgerechnet mit dem VW - Skandal. Dabei sind gerade die VW - Ereignisse gute Argumente gegen TTIP und CETA. Schon in der Vergangenheit argumentierten Industrieverbände und Bundesregierung mit angeblichen Arbeitsplatz- und Wachstumseffekten von TTIP. Dafür gab und gibt es jedoch absolut keine Belege - ganz im Gegenteil! Nun soll also ausgerechnet der Abgasbetrug von VW dazu dienen, den Deutschen das Abkommen mit den USA schmackhaft zu machen. Dann kann doch der Verbraucherschutz in den USA doch wohl so schlecht nicht sein, wie man in Europa so gern behauptet. Schließlich waren es ja US - Behörden, die dem deutschen Konzern auf die Schliche gekamen. Und, äh, was ist der aktuelle Abgas-Skandal?, meinte die EU - Handelskommissarin Cecilia Malmström in der Süddeutschen Zeitung. Wer hat die höheren Abgasstandards?

Ähnlich argumentieren viele konservative Politiker und Kommentatoren in Deutschland: Durch TTIP, das zeige das entschlossene Vorgehen der USA gegen VW, würde der Verbraucherschutz in Europa nicht geschwächt, sondern gestärkt. Mit der Realität hat das allerdings nichts zu tun. Vorerst hätte das Freihandelsabkommen auf Abgaswerte von Autos gar keine Auswirkungen, denn über dieses Thema ist im Rahmen von TTIP – soweit bekannt – noch überhaupt nicht verhandelt worden. Darüber hinaus ist das wichtigste Prinzip, mit dem TTIP sogenannte Handelshemmnisse abbauen will, die gegenseitige Anerkennung von Standards. Jedes Produkt, das auf der einen Seite des Atlantiks zugelassen wurde, soll automatisch auch auf der anderen Seite akzeptiert werden. Damit werden faktisch die jeweils strengeren Anforderungen ausgehebelt und Kontrollen verringert. Das langfristige Ziel der Industrie ist, ... dass sich die EU und die USA mit TTIP darauf verständigen, künftige Vorschriften im Automobilsektor in gegenseitigem Einvernehmen zu verabschieden und auch anzuwenden. So klar formulierte es der Chef der VW - Tochter Audi Rupert Stadler. Und dabei wird die Autoindustrie viel mitzureden haben. Denn über künftige Standards soll unter TTIP ein regulatorischer Rat mit Vertretern aus EU - Kommission und US - Regierung entscheiden. Und zwar in enger Abstimmung mit der jeweils betroffenen Industrie. Genau jene Konzerne also, die schon bisher alles daran setzen, Gesetze erst abzuschwächen und – wie es sich zumindest bei VW gezeigt hat – diese anschließend mit hoher krimineller Energie zu unterlaufen, sollen in Zukunft also eine entscheidende Rolle bei der Festlegung gemeinsamer Standards spielen. Und wenn ihnen die Entscheidungen nicht passen, können sie die Staaten auch noch verklagen. Dass der Widerstand gegen TTIP nicht nachläßt, ist angesichts dessen wohl wirklich nicht verwunderlich. So stehen die TIPP - Befürworter also im Abgasnebel! [4]

Und während man in Europa über die Freihandelsabkommen streitet, wird über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) [5] der EU vor allem mit afrikanischen Staaten kaum berichtet [6]. Dabei ist die Geschichte der Handelsbeziehungen zwischen Europa und diesen Ländern eine Geschichte der Ausbeutung. Wenn die neuen Abkommen in Europa ratifiziert werden, wird dies weitere Flüchtlingsströme in Gang setzen. Dabei haben sich die afrikanischen Staaten und Staatenbünde lange Zeit gegen diese Abkommen gewehrt, dann sind sie einer nach dem anderen eingeknickt. Als Organisationen aus der Zivilgesellschaft wie das Third World Network in Ghana oder die im Senegal beheimatete Plattform der zivilgesellschaftlichen Organisationen Westafrikas gegen das Cotonou - Abkommen (Poscao) Alarm schlugen, setzte die EU die Daumenschrauben an: Wenn sie die Abkommen nicht unterzeichnen, die afrikanische Märkte für europäische Produkte öffnen sollen, würde Europa umgekehrt die Zollvergünstigungen streichen, von denen die afrikanischen Länder seit dem Lomé - Abkommen profitieren, das bis 2000 die Handelsbeziehungen regelte. Der EU stand dabei ein reiches Instrumentarium zur Verfügung: Sie konnte lateinamerikanische Länder, mit denen sie eigene Freihandelsabkommen abschloss, gegen die Afrikaner ausspielen. Oder die Importzölle auf die wichtigsten Exportprodukte Kenias wie Schnittblumen, Bohnen oder Kaffee von 8,5 auf mehr als 30 Prozent anheben, wie am 1. Oktober 2014 geschehen. Einen Monat später hatte die EU auch Ostafrika in der Tasche. Die westafrikanische Währungsgemeinschaft, die südafrikanischen Länder und Kamerun hatten bereits im Juli unterzeichnet.

Ökonomische Partnerschaft: Das klingt nach Austausch auf Augenhöhe in beidseitigem Interesse. Von nachhaltiger Entwicklung, Partnerschaft auf Augenhöhe, gerechten Handelsregelungen und fairen Absatzchancen fabulierte etwa der CDU - Abgeordnete und Theologe Frank Heinrich in einer Bundestagsdebatte im September 2014. Uwe Kekeritz vom Bündnis 90/Die Grünen sprach dagegen von knallharter Erpressung. Partnerschaft und Zusammenarbeit haben den Begriff der Entwicklungshilfe abgelöst. Die Entwicklungshilfe war damals in die Kritik geraten denn der Begriff suggerierte Abhängigkeit und Ungleichheit. Hans - Jürgen Wischnewski, 1966 bis 1968 Entwicklungsminister, bemerkte schon damals: Natürlich spielen unsere ökonomischen, aber auch unsere politischen Interessen eine Rolle. In der Zeit der Dekolonisierung, während der sich ein Land nach dem anderen seine Unabhängigkeit erkämpfte, wollten sich Frankreich und Europa ihren Rohstoffnachschub sichern. So kam es zu den ersten Abkommen. Auf Yaoundé folgte 1975 Lomé: Großbritannien war der EG beigetreten. Und die Ölkrise hatte die Gefahr plastisch vor Augen geführt, dass sich die Länder der Dritten Welt gegen die Erste verbündeten. So galt es, Entgegenkommen zu zeigen. Die ehemaligen Kolonialländer durften ihre Produkte zollfrei nach Europa einführen. Darüber hinaus sollten ihnen Fonds zum Erhalt der Bergbaukapazitäten und zur Stabilisierung der Exporterlöse bei schwankenden Weltmarktpreisen Planungssicherheit geben.

Dies hatte aber den Effekt, dass sich ihre wirtschaftlichen Aktivitäten ganz auf Landwirtschaft und Rohstoffe konzentrierten. Hilfe beim Aufbau einer eigenen Industrie – und was kann mit Entwicklung sonst gemeint sein – lag nicht im europäischen Interesse. Um hier weiterzukommen, mußten die afrikanischen Länder Schulden aufnehmen. Dann allerdings kam es Ende der 70er-Jahre zu einem dramatischen Einbruch der Weltmarktpreise für Lebensmittel und Landwirtschaftsprodukte. Der Verlust an Exporterlösen, verbunden mit einer einseitigen Zinserhöhung der USA, führte die Länder um 1980 geradewegs in die Schuldenfalle, die sich in den folgenden Jahren zuspitzte. Die Schuldzinsen der ärmeren Länder überstiegen die Entwicklungshilfe. Um neue Kredite zu gewähren, verlangten Weltbank und Internationaler Währungsfonds die Umsetzung von Strukturanpassungsprogrammen: Haushaltsdisziplin, umfassende Liberalisierungen, die Privatisierung von Staatsbetrieben. So wurde die staatliche Bergbaugesellschaft Gécamines, die früher den überwiegenden Teil der Exporterlöse der Demokratischen Republik Kongo erwirtschaftete, nach und nach privatisiert. Nun profitieren internationale Konzerne vom Rohstoffreichtum des Landes.

Die Beispiele lassen sich weiter fortsetzen und stehen in einer doch recht seltsamen Analogie. Nun sollen wir also glauben, dass alles gut wird? Verdrängen wir da nicht ein wenig die Tatsachen? Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die das fordern, was ihnen zusteht. Dass ihre Situation zu Hause unerträglich ist, daran hat die Europäische Union mit ihren Protagonisten in dieser leidigen Sache England und Frankreich neben den USA einen nicht ganz zu unterschätzenden Anteil. Wir reden hier nur von der politischen Destabilisierung. Dass die Länder auch wirtschaftlich ausgebeutet werden ist ein altbekannter trauriger Status Quo. Und jetzt muß man sich schützen? Vor wem und vor was? Schlußendlich ist das doch der Versuch, sich vor sich selbst - genauer sich vor den Folgen seines eigenen Handelns zu schützen. Soetwas ist verantwortungslos. Und man will hier so weitermachen [8], wie man es in der Ferne schon getan hat. Mich wundert, dass sich niemand darüber aufregt, dass man im Mittelmeer Schiffe versenken spielt [9] und den Menschen das Recht auf Asyl verwehrt [10]. Asyl ist dabei nur der Schutz vor politischer Verfolgung. Soweit ist die Argumentation in den Medien auch richtig. Die Genfer Konventionen sehen in Artikel 33 aber auch den Schutz bei begründeter Flicht vor Verfolgungwegen Rasse, Religion, nationaler Herkunft, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vor. Der Schutz erstreckt sich auch auf Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Organisationen. Gewährt wird dieser Schutz auch bei einer Einreise über einen sicheren Drittstaat! Ferner kennt das Asylverfahrensgesetz in §4 den Subsidären Schutz, der an Stelle von Asyl gewährt werden kann, wenn im Heimatland der Antragsteller von ernsthafter Strafe (Tod, Folter) und / oder erniedrigene und unmenschlicher Behandlung bedroht ist. Dieser Schutz gilt auch bei internationalen oder innerstaatlichen Konflikten im Heimatland. Zählt dieser Schutz nicht mehr? Zählen die Genfer Konventionen nicht mehr? Oder blendet man dies bewußt aus? Wir schaffen es aus ethischen Gründen, keine Medikamente in die USA zu liefern, die für die Vollstreckung der Todesstrafe geeignet sind, liefern aber Waffen in Kriesengebiete und wimmeln die Flüchtlige ab. Ist das smart?

Ohnehin bleiben die Menschen auch beim Freihandelsabkommen TIPP auf der Strecke! EU - Kommissionspräsident Jean - Claude Juncker ist guter Dinge, dass das Freihandelsabkommen dem europäischen Geist entsprechen wird [11]. Auch die Kanzlerin hat es seltsam eilig und verglich TTIP in der Bedeutung mit dem Nato - Doppelbeschluß in 1980er Jahren [12]. Nach ihrem Willen soll das Abkommen im Grundsatz noch dieses Jahr fertig sein [13]. Das mag vielleicht daran liegen, dass Kritiker aller Geheimhaltung zum Trotz immer mehr Details an die Öffentlichkeit bringen. So verharmlost die Bundesregierung beispielsweise nach wie vor die Macht neu geschaffener Ausschüsse bei CETA [14]. Ein weiteres Gegenargument, auf das die Öffentlichkeit sicher sensibel reagieren dürfte, kommt vom amerikanischen Gewerkschafter Michael Dolan, ein Spezialist für fairen Handel in der US - Gewerkschaft Teamstersr. Die EU müsse sich nach seinen Worten auf durch TIPP bedingte Jobverluste einstellen [15]. Dabei verweist er auf in den Staaten gemachte Erfahrungen mit den Freihandelsabkommen mit Mexiko und Kanada. Wie die Studie [16] der Verbraucherorganisation Public Citizen's Global Trade Watch zeigt, trat das Gegenteil dessen ein, was der Bevölkerung versprochen wurde. Der zunächst sprunghafte Anstieg der Auslandsinvestitionen in Mexiko ist längst erschöpft und blieb ohne nachhaltigen Einfluß auf die mexikanische Wirtschaft [17]. Der Einkommensunterschied ist auf einem Höchststand und nach wie vor verlassen jedes Jahr hunderttausende Armutsflüchtlinge das Land. Die Realität könne nach Inkrafttreten der TIPP - Abkommen anders aussehen als die gegebenen Versprechen. Nicht der Export der USA sei mit den NAFTA - Abkommen gewachsen, so Dolan, sondern der Import. Produktion und Arbeitsplätze seien ausgelagert worden. Und das könne auch Europäischen Staaten passieren weil Konzerne die Produktion dahin verlagern, wo es niedrigere Arbeits- und Umweltstandards gebe [18]. Wenn ich EU - Parlamentarier wäre, - so Dolan - dann wäre ich sehr skeptisch. Die wirtschaftliche Zusammenführung der USA und der EU könnte zur wirtschaftlichen Aufspaltung innerhalb der EU führen: Sinken der Arbeitseinkommen, Rückgang der Exportquote und Verlust von Arbeitsplätzen. Nach Ansicht des US Gewerkschafters muß das Abkommen transparenter gemacht werden und intensiv diskutiert werden, denn TTIP und TTP werden auch die Gestaltung aller künftigen Freihandelsabkommen prägen.

Hat man es mit dem Abschluß der Abkommen eben genau deshalb so eilig? Das sind doch recht seltsame um nicht zu sagen arg befremdliche Vorgänge. Es ist kaum anzunehmen, dass sie aus der Zivilgesellschaft kommen. Macht sich eigentlich jemand Gedanken darum, wie dies im Rest der Welt wahr genommen wird? Macht sich eigentlich auch jemand Gedanken um die Menschen, die betroffen sind?

Ein etwas nachdenklicher Gruss


[1] http://www.taz.de/Proteste-gegen-TTIP/!5236753/
[2] http://www.taz.de/EuGH-Urteil-zu-„Safe-Harbor“/!5238753/
[3] http://www.taz.de/Widerstand-gegen-Freihandelsabkommen/!5031292/
[4] http://www.taz.de/!5237203/
[5] https://www.oxfam.de/sites/http://www.oxfam.de/files/Hintergrund_epa_0.pdf
[6] http://www.kontextwochenzeitung.de/ueberm-kesselrand/236/ungleiche-partner-3172.html
[7] http://www.heise.de/tp/artikel/45/45884/1.html
[8] http://www.heise.de/tp/artikel/45/45884/1.html
[9] https://www.youtube.com/watch?v=zAAPNkBKrzo&feature=youtu.be
[10] http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/fluechtlingskrise-afd-will-grenzen-fuer-asylbewerber-schliessen/12289718.html
[11] http://derstandard.at/2000021939674/Juncker-Wir-werden-TTIP-haben?ref=rec
[12] http://www.handelsblatt.com/politik/international/freihandelsabkommen-merkel-mahnt-bei-ttip-zur-eile/11115698.html
[13] http://www.finanzen.net/nachricht/aktien/Merkel-will-TTIP-im-Grundsatz-noch-dieses-Jahr-fertig-haben-4525312
[14] https://correctiv.org/recherchen/ttip/blog/2015/09/15/ceta-bundesregierung-verharmlost-gremien/
[15] http://derstandard.at/2000022538459/TTIP-US-Gewerkschafter-befuerchtet-Job-Verlusten
[16] http://www.citizen.org/documents/NAFTA-at-20.pdf
[17] http://www.hbs.edu/faculty/Publication%20Files/06-043.pdf
[18] http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20150921_OTS0195/us-spitzengewerkschafter-warnt-vor-grossen-gefahren-durch-ttip

[Beitrag verschoben in den Bereich "ausserhalb der Philatelie" - im Hauptforum sind ausschliesslich philatelistische Beiträge erwünscht. Politische Themen führen regelmässig zu Streit zwischen verschiedenen Mitgliedern - für solche gibt es genügend Foren im Internet]
 
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