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Thema: Philatelie als Wissenschaftsdisziplin ?
jmh67 Am: 02.02.2017 10:31:02 Gelesen: 5257# 1 @  
Ich erlaube mir mal, in den Tag hinein zu spinnen:

Schon bald, nachdem die ersten Postwertzeichen erschienen waren, begannen Menschen diese genauer unter die Lupe zu nehmen. Dieses sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn. Sie erforschen die Details der Herstellung, die Ausgabeumstände und den Gebrauch der Wertzeichen. Dabei betreiben sie gesellschaftliche, historische, technische und naturwissenschaftliche Studien, nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge, und auch nicht immer alles zugleich. Bibliotheken voller schlauer Bücher und viele Seiten von Zeitschriftenartikeln sind dazu geschrieben worden, und manches ist vielleicht nie richtig veröffentlicht worden. Es gibt Forschungssammlungen und Heimatsammlungen.

Hier im Forum beschreiben mehrere Forscher-Sammler detaillierte Studien, die einen eher sporadisch, andere regelmäßig, die einen in kompakter Form, andere über mehrere Beiträge verteilt. Die einen systematisieren Dinge, andere stöbern neue Fakten auf. Man übt Kritik, und daraus erwachsen neue Erkenntnisse.

Alles das zeigt, dass es sich bei Philatelie um viel mehr als eine Sammelleidenschaft handelt und dass auch die kommerziellen Aspekte nur ein kleiner Teil des Ganzen, vielleicht noch nicht einmal der wichtigste, sind. Vielmehr erkenne ich deutliche Parallelen zur wissenschaftlichen Praxis in mehr als einer Disziplin. Kann zumindest die fortgeschrittene Philatelie daher nicht selbst als eine (angewandte) Wissenschaft angesehen werden?

Ich erwarte freilich nicht, dass an Hochschulen Lehrstühle für die philatelistische Wissenschaft eingerichtet werden, da besteht wohl von Seiten der Wirtschaft und Gesellschaft kaum Bedarf - aber gibt es nicht auch sowohl Hobbykünstler als auch Kunstwissenschaftler, Freizeitgärtner als auch Agronomen, tüftelnde Heimwerker als auch Ingenieure? Womöglich gibt es auch bereits Baccalaurei, Magistri oder gar Doctores, die ihre akademischen Würden mit Arbeiten zur Philatelie erworben haben? Vielleicht täte eine weitere Übernahme der wissenschaftlichen Methoden und Kultur der Philatelie sogar gut?

Hab' nur mal so den Gedanken freien Lauf gelassen.

Jan-Martin
 
mausbach1 (RIP) Am: 02.02.2017 11:11:36 Gelesen: 5234# 2 @  
In dieser "Disziplin" sind schon "Doktorhüte" verliehen worden. Seit Jahrzehnten wird die Philatelie als eine Hilfswissenschaft u.a. der Historiker angesehen.

mausbach1
 
jmh67 Am: 02.02.2017 11:50:48 Gelesen: 5211# 3 @  
In der Tat habe ich mittels Google Scholar einige Dissertationen gefunden, die auf Briefmarken Bezug nahmen, oft in historischen Fächern. Ein Autor schrieb sinngemäß in der Zusammenfassung, dass Postwertzeichen als historische Quelle akademisch unterbewertet gewesen seien. Ich fand aber auch Artikel über naturwissenschaftliche und technische Studien, zum Beispiel in Spektroskopie oder über Sicherheitsmerkmale. Vor fünf Jahren oder so war da noch viel weniger zu finden.

Jan-Martin
 
bayern klassisch Am: 02.02.2017 12:16:51 Gelesen: 5191# 4 @  
@ jmh67 [#1]

Hallo Jan-Martin,

mit Philatelie meinst du eher Postgeschichte (die ja Marken oft gar nicht kennt, oder sie nur als Hilfsmittel ansieht, weil die Kommunikationsgeschichte nur bedingt von Marken geprägt sein kann).

Da gibt es mehrere Fälle - Dr. Joachim Helbig, ein lieber Freund von mir, hat in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts promoviert. Viele sind es jedoch nicht, weil die Althistoriker uns Forschern der Kommunikationsgeschichte sehr zurückhaltend gegenüber stehen, um es vornehm zu forumulieren.

Dass das falsch ist, weiß jeder, der selbst Postgeschichte (PO) betriebt, aber es lässt sich schwer auf die Schnelle ändern.

Liebe Grüsse,
Ralph
 
Cantus Am: 02.02.2017 13:00:41 Gelesen: 5168# 5 @  
Man muss das Thema ja nicht unbedingt als Wissenschaft empfinden, sollte aber andererseits auch nicht vergessen, dass es immer noch den Beruf des "Briefmarkenkaufmanns" gibt, Das ist nicht einfach nur jemand, der mit Briefmarken handelt, sondern ein regulärer Ausbildungsberuf, der drei Jahre lang dauert und mit einem Prüfungsabschluss an der Industrie- und Handelskammer endet. Drei Jahre sind eine recht lange Zeit, in der man sich - neben diversen rechtlichen Dingen - mit vielen verschiedenen Facetten aus allen Bereichen der weltweiten Philatelie beschäftigen muss. Ob man das nun Wissenschaft nennt oder nur vertieftes Studium unterschiedlicher Wissensbereiche, das mag dahingestellt sein, aber es ist zumindest ein wichtiger Schritt auf dem Weg, die Philatelie nicht nur als ein allgemeines Hobby zu betrachten.

Viele Grüße
Ingo
 
Zeitlos Am: 02.02.2017 14:24:47 Gelesen: 5128# 6 @  
Hallo an alle,

ja - ich finde den wissenschaftlichen Ansatz bei Briefmarken mit zu den wichtigsten Bestandteilen der Philatelie insbesondere bei Klassischem und z.B. Alliiertenvielfalt und Abarten und den gibt es ja auch. Viele Wortbezeichnungen werden von unterschiedlichen Personen auch unterschiedlich geprägt und benutzt. Viele bestehende Begriffsbestimmungen sind geläufig und ausführlich erklärt. Vielleicht könnte eine alte Bezeichnung in der Philatelie neue Bewertungsmaßstäbe und Rangordnung sowie Zuschlagswürdigkeiten um so einiges erweitern und neue Sammelarten entstehen.

UNIKAT: Bei Wikipedia nachzulesen habe ich dieses Wort auf die Briefmarkenwelt übertragen:

Grundsatz:
Welche Merkmale sollte ein Unikat aufweisen ?
Welche Merkmale führen zu Wertsteigerungen ?

Einleitung
UNIKAT bezeichnet die Einzigartigkeit eines Objekts, zu der auch handgefertigte Werke der Kunst die zur Herstellung von Briefmarken gehören – von der Papierherstellung bis hin zu Druckerplatten (Stecher) Gestaltung sowie Entwertungsarten deren Platzierung sowie Zentrierung.

In der (Massen) Produktion ist ein UNIKAT ein eindeutig identifizierbares Teil oft mit Seriennummer oder Druckzusatz behaftet zwecks Rückverfolgbarkeit des gesamten Produktionsprozesses und aller nachgelagerten Prozesse. Insbesondere bei Briefmarkenwertzeichen und deren Unterteilungen in Abarten wie Plattenfehler, Druckzufälligkeiten, Farben, Passerverschiebungen und Aufdrucke sowie Papierbestandteile und Zahnungsunterschiede usw.. Ein Plattenfehler ist ein Unikat, dennoch ist dieser meistens berechenbar wiederkehrend und kann oft sogar einen Bogenplatz oder einer Teilauflage zugewiesen werden. Die Retusche eines Plattenfehlers ist auch nachvollziehbar. Der Bezug liegt auf Druckpatten.

Eine Druckzufälligkeit ist ein Unikat, unberechenbar im Vorkommen und nur bedingt gleichmäßig wiederkehrend. Der Bezug liegt auf zufällig.
Papierunterschiede können Unikate hervorbringen, besonders Dickes oder dünnes, Holziges, Fasern, Fluoreszierend, Oberflächen und Farben des Papiers und sogar am Papier, wie geklebte Papierbahn und Zahnungsunterschiede und insbesondere Wasserzeichenunterschiede im Papier und deren Stellung. Dementsprechend entstehen Unikate auf Unikate aus Unikaten werden Unikate mit Abstufungen immer seltener Ausführungen.

Zunehmend ist festzustellen, dass es mehr Sammlermotivation nach verborgenen Schätzen gibt. Bei der Werteinschätzung von Briefmarken finde ich werden Druckzufälligkeiten und nicht eingetragene Plattenfehler an einigen Stellen derzeit oft noch abwertend niedergeredet, obwohl einige dieser, die eigentlichen Unikate der Unikate wären und daher einige noch unterbewertet sind.

Zentrisch gestempelt oder postfrisch - Schantl und alle anderen Abarten-Plattenfehler- und Druckzufälligkeiten-Sammler wissen, was sie wollen und selbst bei Ebay gibt es unter Ebay Stempel den Hinweis keine ungeeigneten Marken mehr einzustellen - die will keiner! Aber alle mögen Unikate.

Der ergänzende Wunsch der Sammler auch DZF zu sammeln um z.B. einen Bogen mit allen Plattenfehlen und einen mit allen DZF aus der Marke benötigt man keine neue Bewertung dennoch hilfreich. Wenn ihr mal schauen mögt dann unter abarten-forschung.de - der Herr Bartz kann kaum erfassen was dort eingereicht und nach Anerkennung strebt ein Sammelwürdiges Unikat zu werden. Wenn es Ihm gelingt, eine ähnliche Seite aufzubauen, wie die von Colnect - könnte jeder Jugendsammler mit klick auf Vergleichen der Varianten, alle Abarten Unikate erfassen und Vergleichen.

Das sind Merkmale der Marktbelebung im Wandel der Philatelie. Dennoch bleibt es ja jeden Sammler überlassen was, wie und warum er sammelt. Mein eigener Forschungsdrang im Bereich Unikate seht Ihr unter Gemeinschaftsausgabe Papierfehler.

Gruß Helmut
 
jmh67 Am: 02.02.2017 15:49:59 Gelesen: 5086# 7 @  
Erst einmal danke für die Wortmeldungen! Ich glaubte nicht so schnell ein Echo auf mein "lautes Denken" zu bekommen.

@ bayern klassisch [#4]

Ich meine nicht nur Post- und Kommunikationsgeschichte, obwohl damit ganz klar eine engen Verbindung besteht. Ich dachte auch an die technischen Aspekte, wie sie z. B. in der Diskussion zu den Farben der Köpfeserie anklangen.

Selbstverständlich steht das auch im historischen Kontext, ist aber von der Sache her Naturwissenschaft.

@ Zeitlos [#6]

An Zufälligkeiten und Unikate dachte ich weniger, denn an Einzelstücken kann man schlecht forschen. So gesehen ist fast jede gebrauchte Briefmarke ein Unikat, denn selten trifft der Stempel genau auf derselben Stelle. Aber die Papier- und Druckabarten sowie die Variationen im Herstellungsprozess (ich denke da z. B. an die neulich diskutierte unterschiedliche Qualität des Kreidepapiers) sind durchaus systematischen Untersuchungen zugänglich, da geht die Wissenschaft los.
 
ReinierCornelis Am: 03.02.2017 09:49:11 Gelesen: 5006# 8 @  
Klare Sache, dass die Philatelie wissenschaftlich betrachtet werden könnte!

Bei die Philatelie gibt es drei Kategorien:

1. Herstellung der Postwertzeichen;
2. Benutzung der Postwertzeichen einschliesslich die Postgeschichte;
3. Was (und warum) wird auf die Postwertzeichen abgebildtet einschliesslich bei die Benutzung.

Ich selber beschäftige mich nur mit die 1. Kategorie der Herstellung wobei es um 2 Sachen geht:

1. Welche Verfahren sind benutzt - wo, wie und warum - und wie zu erkennen;
2. Welche Materialen sind benutzt - woher - und wie zu erkennen.

usw.
 
sentawau Am: 03.02.2017 11:47:38 Gelesen: 4960# 9 @  
In der Rezension einer früheren Veröffentlichung der bayerischen 'Philatelistischen Akademie' habe ich 2014 geschrieben:

Dem Namen der Akademie zum Trotz ist die Philatelie nicht akademisch und auch keine Wissenschaft, sondern eine anspruchsvolle Freizeitbeschäftigung, die sich forschend auch natur- und geisteswissenschaftlicher Methoden bedient. Ein subjektives Moment kommt hinzu: Philatelie sollte interessant sein und dem Sammler Spaß machen.

Seither habe ich meine Meinung nicht geändert.
 
LOGO58 Am: 03.02.2017 15:09:39 Gelesen: 4909# 10 @  
Hallo zusammen,

ich möchte mich an der Diskussion nicht tiefer beteiligen, aber eine Anregung geben.

Es scheint ja doch schwierig zu sein, die Philatelie als Wissenschaftsdisziplin zu bezeichnen oder sie als solche einzuordnen. Daher möchte ich den Begriff der (Historischen) Hilfswissenschaften [1] ins Spiel bringen, wie z.B. die Sphragistik (Siegelkunde), Numismatik (Münzkunde), Genealogie ("Ahnenforschung") usw. als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft.

Näheres siehe auch [1]. Vielleicht siedelt man damit die Philatelie nicht so hoch an, so dass Wissenschaftler auch damit leben können?

Grüße aus dem Norden
Lothar

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Historische_Hilfswissenschaften
 
ReinierCornelis Am: 03.02.2017 15:53:44 Gelesen: 4890# 11 @  
* Vexillologie, Lehre von den Flaggen
* Filigranologie, Lehre von den Wasserzeichen


Sind auch dabei?

Warum Philatelie nicht?
 
Baber Am: 10.02.2017 09:30:31 Gelesen: 4788# 12 @  
Zur Frage "Philatelie als Wissenschaft" hat der 3. Präsident der FIP, der Belgier P.J.Maingay, 1933 in seinem Jahresbericht einige bemerkenswerte Antworten gegeben, aber das ist eben schon lange her.



Kopiert aus dem Jahresberecht der FIP, 1933

Gruß
Baber
 
jmh67 Am: 10.02.2017 14:08:09 Gelesen: 4731# 13 @  
@ Baber [#12]

Das ist ja interessant! Wenn es sich um die Cleveland State University handelte, ist aber dieser Lehrstuhl offenbar schon länger wieder von der Bildfläche verschwunden.

Vielleicht ist die Philatelie, die ja historische, ökonomische, gesellschaftliche und technische Aspekte hat, für eine eigene Wissenschaftsdisziplin schon zu breitgefächert. Dass sie auch eine Freizeitbeschäftigung ist und zuvörderst eine war, täte dem aber kaum Abbruch, denn auf vielen Gebieten sind sowohl Amateure als auch Professionelle tätig.

Jan-Martin
 
Baber Am: 10.02.2017 14:27:13 Gelesen: 4725# 14 @  
@ jmh67 [#13]

Ja leider, der Rechenschaftsbericht des damaligen FIP-Vorsizenden stammt aus dem Jahre 1933.

Gruß
Bernd
 
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